Wo grinst man am meisten in die eigene Kamera?
27. Februar 2014Von Papst Franziskus bis hin zu Barack Obama: Sie alle schießen Selfies. Der amtierende US-Präsident sorgte damit sogar kürzlich für Aufregung. Bei der Trauerfeier für Nelson Mandela posierte er mit der dänischen Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt und dem britischen Premierminister David Cameron. Im Netz erntete er dadurch Häme und Spott. Dagegen erhielt der japanische Astronaut Aki Hoshide stürmische Beifallsbekundungen. Sein Selfie im All während einer ISS-Expedition ging im September 2012 um die Welt und sorgte damit für große Anerkennung. Im Netz wurde es in allen sozialen Netzwerken tausendfach geteilt.
Auch das Oxford English Dictionary ist bereits auf die Selbstporträts mit Smartphones oder Webkameras aufmerksam geworden. So kürte der Verlag die Wortschöpfung "Selfie" zum internationalen Wort des Jahres 2013 und nahm den Begriff offiziell in das Nachschlagewerk auf.
Winzige Selfie-Community
Schnell noch ein Foto mit dem ersten Eis des Jahres hier und – klick – kommt das Bild nach dem sonntäglichen Joggen hinterher. Selfies gehen immer und überall. Und sie scheinen allgegenwärtig.
Tatsächlich kam aber nun bei einer Studie des amerikanischen Medienwissenschaftlers des Gradute Centers New York, Lev Manovich, und seinem Team heraus, dass es sich bei Selfies um ein Minderheitenphänomen handelt. Viel häufiger werden Essen, Immobilien, Kunst und Tiere zur Schau gestellt. Um die Daten für jeden zugänglich zu machen, haben sie die Vorgehensweise und Ergebnisse auf der Internetseite Selfiecity veröffentlicht.
Für ihr Projekt wählten die Forscher zunächst 120.000 Fotos aus dem sozialen Netzwerk Instagram zufällig aus. Nur die Hauptstädte Moskau, Sao Paolo, Berlin, Bangkok und New York wurden berücksichtigt. Um Gültigkeit bei der Studie herzustellen, wurden Spezialisten angeheuert. Diese mussten dann einschätzen, ob es sich bei den vorgelegten Bildern wirklich um Selfies handelte. Eine erstaunliche Erkenntnis: Pro Stadt filterten sie nur etwa 1000 Bilder heraus, die tatsächlich Selfies waren. Im Anschluss daran wertete ein Algorithmus bestimmte Merkmale aus: beispielsweise die Kopfneigung, Augenposition oder Laune. Um Fehler aufzudecken, wurden die Ergebnisse mit einer manuellen Analyse verglichen und Bilder mit Unklarheiten entfernt. Letztlich flossen nur noch 640 Fotos pro Stadt in die Statistik mit ein.
Moskau grummelt
"Es war interessant zu sehen, dass Menschen in den verschiedenen Städten tatsächlich unterschiedlich posieren", sagte Moritz Stefaner im Gespräch mit der DW. Der Designer war für die visuelle Gestaltung des Projekts zuständig. Eigentlich ging das Team um Manovich von globaler Universalität aus. Bedeutende Unterschiede haben sie demnach nicht erwartet. Deswegen waren manche Ergebnisse schon eine Überraschung. Beispielsweise, dass Frauen häufiger posieren als Männer. Dass aber mit steigendem Alter mehr Männer Selfies schießen als Frauen.
Generell tauchen Selfies aber bei den jüngeren Generationen häufiger auf als bei den älteren: mit einem Durchschnittsalter von 25,3 Jahren leben in New York die ältesten Selfie-Fans, in Bangkok dagegen mit durchschnittlich 21 Jahren die jüngsten. Auf den meisten Fotos wird gelächelt.
Ganz anders in der russischen Hauptstadt: In der Erklärung von Selfiecity heißt es: "Moskau? Kein Spaß, wie es aussieht!" Zwar machen dort die meisten Frauen Fotos von sich selber (82 Prozent), doch sie scheinen dabei nicht sonderlich glücklich zu sein. Im Vergleich mit den anderen Städten haben sie die niedrigste Punktzahl im Lächeln. So kommen sie auf einer Skala von 0 bis 1 auf gerade einmal 0,53. Weiter südöstlich ist dagegen das Spaßparadies – zumindest den Bildern nach zu urteilen. Bangkoker Selfie-Schießer haben die höchste durchschnittliche Punktzahl im Lächeln mit 0,68.
Aufschluss über die Kultur durch Selfies
Mit Selfies gestalten die Menschen ihr soziales Image. Sie präsentieren das virtuelle Ich. Zwar lassen die Ergebnisse der Studie von Selfiecity keine Rückschlüsse auf die Länderkulturen zu, da dazu weitere Faktoren berücksichtigt werden müssen, wie etwa das soziale und politische Umfeld oder - ganz profan - das Wetter.
Aber über die Kultur in den Sozialen Medien lässt sich einiges ablesen. Deutlich wird vor allem, dass Selfies sich nicht auf einen Kulturkreis beschränken lassen, sondern ein internationales Phänomen sind. "Es gibt viele Selfie-Klischees", erklärt Moritz Stefaner. Blonde Frauen, die eine "Duckface"-Schnute ziehen, würden den meisten Leuten als erstes zum Stichwort Selfie einfallen. Doch für die Wissenschaftler steckt in den Fotos viel mehr. "Es ist ein vielschichtiges Phänomen", so der Designer weiter, häufig stecke hinter den banalen Bildern eine ganze kleine Welt. Nach dem Motto: Guckt, wo ich gerade bin, mit wem, oder was ich in der Hand habe. Genau darum ging es den Forschern, als sie ihre Studie in Angriff nahmen. Im Vordergrund stand, herauszufinden, wie viel man aus selbstproduzierten Medien ablesen kann, um damit zumindest eine Internet-Kultur messbar zu machen.
In den kommenden Jahren möchten die Forscher sich dem Themenfeld weiter widmen und es erweitern. Ein nächster Schritt wäre der Vergleich zu früheren Polaroid-Selbstporträts. Denn auch mit der kultigen Sofortbild-Kamera wurden Millionen Selbstporträts geschossen. Polaroids sind so gut wie ausgestorben, den Look übernehmen heute die Filter von Instagram & Co. Das Zeitalter der Selfies ist also noch lange nicht vorbei.