Demirtas: "Ich werde weiter kämpfen"
8. Dezember 2020Seit November 2016 ist Selahattin Demirtas, ehemals einer der beiden Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei HDP, in Haft. Er sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis in der Stadt Edirne in der Nähe der griechischen Grenze. Ankara wirft dem Politiker Terrorpropaganda, Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe sowie Volksverhetzung und Aufstachelung zur Gewalt vorgeworfen. Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft der HDP vor, der politische Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK zu sein,
Er gilt weiterhin als einer der wichtigsten politischen Figuren in der Türkei. Zuletzt haben auch namhafte Personen innerhalb der regierenden AKP seine Freilassung gefordert. Allerdings wurde diese Forderung vom Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seinem Bündnispartner, dem Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, entschieden abgelehnt.
Demirtas hat lediglich über seinen Anwalt Kontakt zur Außenwelt. Über diesen Kommunikationsweg hat er der DW exklusiv Fragen zu seiner Sicht auf die aktuelle politische Lage, die Haftbedingungen während der Corona-Pandemie und seine politische Zukunft beantwortet.
Deutsche Welle: Herr Demirtas, Sie sind seit über vier Jahren im Gefängnis. Haben Sie noch Hoffnung auf eine Freilassung?
Selahattin Demirtas: Das ist voll und ganz von den politischen Gegebenheiten abhängig. Wir kämpfen nicht für unsere individuelle Freiheit, sondern für die Freiheit unserer Gesellschaft. Die Freiheit von politischen Gefangenen ist in diesem Kampf natürlich auch ein wichtiger Teil.
Wie sieht Ihr Alltag im Gefängnis aus?
Ich lese viel, ich schreibe viel. Meine Arbeit an einem weiteren Buch ist im vollem Gange.
Was können Sie tun, um sich vor einer Corona-Infektion im Gefängnis zu schützen?
Es ist nahezu unmöglich sich individuell vor COVID-19 zu schützen. Wir sitzen zu zweit in der Zelle, was die Situation sehr schwierig macht. Um Corona-Infektionen einzudämmen, sind die Regeln für Besuche von Familienangehörigen und Anwälten geändert und auch eingeschränkt worden. Sämtliche Aktivitäten der Gefangenen sind verboten worden. So auch der Sport. Wir verbringen die ganze Zeit in der Zelle.
Wie sieht ihr Blick auf die politische Lage in der Türkei aus?
Derzeit gibt es ernsthafte wirtschaftliche, politische und soziokulturelle Krisen im Land. Und es zeichnet sich leider nicht ab, dass sich etwas verbessern wird. Alles in der Türkei ist leider viel schlimmer geworden. Die Gesellschaft befindet sich in einem Zustand tiefer Verzweiflung und des Unglücks.
Es liegt an der Opposition, Hoffnung und Lösungen zu suchen und zu finden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Oppositionsparteien zusammenkommen müssen, um eine starke Alternative gegenüber der Regierung zu sein, damit die Hoffnung wieder greifbar wird. Wer an die Demokratie glaubt, kann sich zusammenschließen, um gemeinsam die Krise zu überwinden.
Aufgrund Ihrer Zusammenarbeit mit dem Block der Opposition hat Staatspräsident Erdogan sowohl der Republikanischen Volkspartei (CHP) als auch der nationalistischen IYI Partei vorgeworfen, mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu kollaborieren. Stellt das Ihrer Ansicht nach nicht ein Problem dar?
Niemand in der Türkei glaubt ernsthaft an diese Art von schmutziger Propaganda. Eine Zusammenarbeit auf demokratischer Ebene ist meiner Ansicht nach legitim und völlig normal.
Es gibt sogar innerhalb der HDP einige Personen, die behaupten, die Partei distanziere sich von der Gewaltbereitschaft der PKK nicht genug. Teilen Sie diese Ansicht?
Es gibt keinerlei Zusammenhang zwischen der HDP und Gewalt - auch nicht zwischen der HDP und Waffen. Das wird es auch nie geben. Dass wir bei der Frage der Zukunft der Kurden eine andere politische Perspektive haben als andere politische Parteien, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die HDP gewaltbereit ist. Jeder, der in der HDP eine Aufgabe übernimmt, ist in der HDP, weil er eine Politik des Friedens vertritt und verteidigt.
Hunderte von HDP-Anhängern sitzen in türkischen Gefängnissen. Kann die HDP unter diesen Voraussetzungen weiterhin politisch aktiv sein?
Leider sind es nicht Hunderte, sondern tausende Unterstützer der HDP, die hinter Gittern sind. Natürlich erschwert dieser Umstand die politische Teilhabe ungemein. Doch mit der Hilfe vieler Freiwilliger und der übrigen türkischen Bevölkerung können wir unsere Arbeit fortgesetzt.
Die aktuellen Zustimmungswerte für die AKP sinken. Glauben Sie, dass Erdogan Probleme haben wird, seine Macht zu halten?
Für Erdogan wird es immer schwieriger, die Politik im Land zu gestalten. Es handelt sich nicht mehr um eine Übergangskrise. Vielmehr sehen wir eine ernsthafte, strukturelle Krise. Wenn wir uns dieses chaotische Umfeld vor Augen führen, glaube ich nicht, dass die Regierung auf Dauer ihre Machtstellung halten kann. Deshalb denke ich, dass der einzige Ausweg aus dieser Krise vorgezogene Wahlen sind.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem Urteil Ihre sofortige Freilassung gefordert. Warum - glauben Sie - sind sie immer noch im Gefängnis?
In meinem Fall handelt es sich fernab aller juristischer Urteile um ein rein politisches Urteil. Nicht nur der Staatspräsident, sondern auch alle Regierungssprecher geben das ganz offen zu. Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das türkische Verfassungsgericht schwerwiegende Verstöße festgestellt haben. Ich bin aufgrund anhaltender politischen Feindseligkeit immer noch im Gefängnis.
Innerhalb der regierenden AKP haben auch namhafte Personen wie Bülent Arinc ihre Freilassung gefordert. Er ist einer der Gründungsmitglieder der AKP. Was könnte der Grund solcher Äußerungen sein?
Ich kann nicht wirklich beurteilen, warum Bülent Arinc auf einmal meine Freilassung fordert. Auch wenn es meiner Meinung nach zu spät kommt, könnte es sich dabei aber vielleicht um moralische Gründe handeln. Fragen zur Demokratie und nach Reformen sollten aber nicht auf der Basis einzelner Äußerungen erörtert werden. Freiheit und Menschenrechte sind die Grundbedürfnisse einer ganzen Gesellschaft. Einigkeit und Aufrichtigkeit sind nötig, um diese Themen anzugehen. Wir werden sehen, ob die Regierung diese Kapazitäten überhaupt hat.
Wenn Sie irgendwann wieder in Freiheit gelangen sollten, werden Sie wieder politisch aktiv werden?
Ob ich im Gefängnis bin oder in Freiheit: Ich werde meinen politischen Kampf fortführen. In welcher Position ich das dann tun kann, werde ich erst dann entscheiden, wenn die Zeit und die Umstände es zulassen.
Die Fragen stellte Bülent Mumay.