1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Seien Sie doch ein bisschen europäisch"

Baha Güngör6. Dezember 2004

In der Türkei gibt es nur ein Thema: Ob beim Überqueren der Straße oder beim Einchecken am Flughafen, bei jeder Gelegenheit diskutieren die Menschen über einen EU-Beitritt der Türkei, berichtet Baha Güngör aus Istanbul.

https://p.dw.com/p/5efW
Gesprächsstoff am Bosporus: die Türkei und die EUBild: dpa

"So kommen wir nie nach Europa", schimpfen Türken, um Drängler vor dem Fahrscheinschalter der Istanbuler U-Bahn zur Disziplin zu zwingen. "Seien Sie doch ein bisschen europäisch", sagt die junge Bodenstewardess auf dem Flughafen von Istanbul dem Reisenden mit drei Riesenkoffern nach Frankfurt, um ihn von der Notwendigkeit der Zahlung für das Übergepäck zu überzeugen. Europa war schon immer ein Ziel der Türken – als Hort der zeitgenössischen Zivilisation, auf deren Ebene Republikvater Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) sein Werk gehievt sehen wollte.

Symbol für Anstand und Pflichtbewusstsein

Auf die Frage, warum er sein Land in der Europäischen Union möchte, antwortet der Dienstfahrer eines großen Konzerns: "Ich möchte nicht mehr ausgebeutet werden und sechsmal in der Woche mindestens zwölf Stunden für einen Hungerlohn arbeiten." Auch über Demokratie und Menschenrechte machen sich die Menschen am Bosporus große Gedanken: "Ich will, dass uns die Möglichkeit gegeben wird, unser Recht zu suchen, wenn Polizisten uns misshandeln", sagt der Student. Wer in diesen Tagen bei Rot über die Straße geht, wird von den auf dem Bürgersteig wartenden Passanten als "anti-europäisch" beschimpft. Unter der Bevölkerung war Europa schon immer ein Symbol für Zivilisation und Disziplin, für Anstand und Pflichtbewusstsein.

Der Ägyptische Basar
Istanbul (Türkei): Blick auf die Auslage im Gewürzbasar, der auch Ägyptischer Basar genannt wird, im Eminönü-Viertel von IstanbulBild: dpa

Rettendes Ufer

Für die Regierung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan ist Europa das rettende Ufer. Er weiß, was ihm und seiner alleinverantwortlich mit überwältigender Mehrheit regierenden Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) blüht, wenn die EU auf ihrem Gipfeltreffen Mitte Dezember in Brüssel der Türkei keine Beitrittsverhandlungen anbietet und damit das große Ziel Europa für das 67-Millionen-Volk unter dem türkischen Halbmond wieder in die Ferne rückt.

In allen Zeitungen, in allen TV-Sendern - und das seit Monaten - ist Europa das unumstritten wichtigste Aufmacherthema. In epischer Breite wird über den jeweiligen Stand der Türkei-Debatte in den europäischen Hauptstädten berichtet – wie über die Pegelstände der großen Flüsse in Deutschland in regenreichen Zeiten. Welcher europäische Politiker hat was gesagt, welches Land könnte zu einer Gefahr für die EU-Ambition der Türkei werden ... Vor allem aber konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Türken auf Deutschland, das immer noch als die Lokomotive der Türkei in Richtung EU hochgelobt wird, wobei die Argumente der deutschen Politiker gegen eine weitere Heranführung ihres Landes an Europa den Türken besonders weh tun.

Zauberbegriff Europa

Schon seit den Blütezeiten des Osmanischen Reiches war Europa ein Zauberbegriff für die Türken. Das Assoziationsabkommen von 1963 ist nur eine logische Folge der historischen Windrichtung in der Türkei, die geografisch nur geringfügig, politisch aber erheblich überzeugender europäisch ist. Der im April 1987 in Brüssel eingereichte Beitrittsantrag soll mit dem voraussichtlichen Beginn von Beitrittsverhandlungen zu einem noch unbekannten Zeitpunkt fast 18 Jahre danach eine weitere Hürde überspringen.

Damit der Europa-Traum aber nicht zerplatzt, hat Erdogan alle Weichen auf Reformen und Veränderung gestellt. Verfassungsänderungen, Erneuerung oder Verabschiedung von neuen Gesetzen und für die Türkei revolutionär anmutende Schritte wie die Streichung der Todesstrafe aus dem Paragraphendschungel oder die zunehmende Bestrafung von des Folterns überführten Sicherheitsbeamten haben die Türken dem Europa-Antrieb zu verdanken. Versuche von radikalen Moslems oder fanatischen Nationalisten, Sand ins Europa-Getriebe der Türkei zu streuen wie etwa die hitzige Debatte um die geforderte Bestrafung des Ehebruchs per Strafgesetzbuch, werden im Keim erstickt.

Der Große Basar
Istanbul (Türkei): Blick in den Großen Basar (Kapali Carsi) in IstanbulBild: dpa

"Seid wie Männer"

Dabei entwickelt Erdogan taktische Künste, die selbst seine Gegner zum Abnehmen des Huts zwingen. Erst schimpft der mit den Europäern, die sich für seinen Geschmack zu sehr in die inneren Angelegenheiten der Türkei einmischten. Dann fliegt er nach Brüssel, um einzulenken und mit dem Erweiterungskommissar Günter Verheugen vor die internationale Öffentlichkeit zu treten und die Konzessionsbereitschaft seines Landes publikumswirksam zu bekräftigen.

In den letzten Tagen vor der offiziellen Veröffentlichung des Fortschrittsberichts der EU-Kommission mit der lange ersehnten Empfehlung von Beitrittsverhandlungen zeigte Erdogan in der Türkei wieder seine türkische Seite: "Seid wie Männer", zitierten ihn türkische Blätter, nachdem durchgesickert war, dass zunächst die Beitrittsverhandlungen und damit auch die Mitgliedschaft von Bedingungen abhängig gemacht werden sollen, die keinem der bisher zur EU beigetretenen 25 oder den 2007 in die politische Superliga aufsteigenden Ländern Rumänien und Bulgarien zur Bedingung gemacht worden sind: "Wir haben die Kopenhagener Kriterien erfüllt, was mir bescheinigt worden ist. Jetzt geht es um deren Umsetzung und darum, dass wir die noch bestehenden Lücken schließen und unsere Wirtschaft entwickeln."

Armee nicht gegen Europa

Die Armee als bisher unumstrittener Machtfaktor hatte sich Dinge gefallen lassen, die von den Generälen nach drei Staatsstreichen seit 1960 und vielen weiteren "Feinbalancierungen der Demokratie", wie der frühere stellvertretende Generalstabschef Cevik Bir nach dem erzwungenen Sturz des frühere islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan 1997 unter Androhung eines weiteren Eingriffs der Militärs gesagt hatte, nicht erwartet worden wäre. Inzwischen sieht sich Parlamentspräsident Bülent Arinc von der AKP nach einigen entsprechenden Berichten und Kommentaren gar genötigt, die Armee in Schutz zu nehmen: "Unsere Streitkräfte sind nicht gegen Europa!"

Dass die Beitrittsverhandlungen sich über sehr lange Zeiträume hinziehen und viele Krisen das türkisch-europäische Verhältnis im allgemeinen oder die Beziehungen der Türkei zu verschiedenen EU-Staaten im besonderen belasten werden, pfeifen die Spatzen von den anatolischen Dächern. Einen Vorgeschmack lieferte das gescheiterte Projekt der Türkei, die Islamische Konferenz-Organisation (OIC), deren Generalsekretär ein Türke ist, und die EU Anfang Oktober in Istanbul an einen Tisch zu bringen. Das Projekt scheiterte am Widerstand der niederländischen EU-Ratspräsidentschaft, die international nur von der Türkei anerkannte nordzyprische Türkenrepublik als offizielle Beobachterin zu akzeptieren.

Istiklal Caddesi
Istanbul (Türkei): Blick in die Istiklal Caddesi in IstanbulBild: dpa

Weder Spieß noch Kebap

Die linksliberale "Cumhuriyet", eine der Speerspitzen des Kemalismus, warnte in einem Kommentar davor, der Übergang und die Bedingungen der EU sollten nicht als "Druckmittel" verstanden und gar akzeptiert werden. Die Türkei gerate in ihrem Verhältnis in eine "Grauzone ohne Kontrast zwischen Schwarz und Weiß". Der Türkei drohe eine "Politik der Kapitulation und der Preisgabe von eigenen Interessen", weil sie einem Europa gegenüber stehe, das den Status der Türkei offen lasse, um sie zu kontrollieren und zu lenken: "Europa denkt weder offen daran, die Türkei aufzunehmen, noch ihre Ablehnung zu riskieren. Es verfolgt eine Politik, die weder den Spieß verbrennen will noch den Kebap"