"Seid umschlungen" - Beethovens neue Neunte
12. März 2020Zu keinem Werk von Beethoven gibt es so viele Quellen wie zu seiner Neunten Sinfonie. Entsprechend dick ist die neue wissenschaftlich kritische Ausgabe der Partitur, die Beate Kraus vom Bonner Beethoven-Archiv pünktlich zum Jubiläumsjahr im Henle Verlag herausgegeben hat. "Viele Orchester führen die Neunte im Jubiläumsjahr auf, und es gab eine Nachfrage nach der neuen Edition."
In allen großen Konzerthäusern der Welt wird Beethovens letzte Sinfonie in diesem Jahr zu hören sein, auch beim Beethovenfest im September in Bonn. Das Orchester der Bayreuther Festspiele wird die Neunte unter Dirigent Marek Janowski aufführen, und der Pianist Cyprien Katsaris spielt die Neunte in der Klavierfassung von Franz Liszt. Zur Frühjahrsausgabe des Beethovefestes sollte auch Theodor Currentzis mit seinem Ochester MusicAeterna den Sinfoniezyklus dirigieren, doch wegen des Coronavirus wurden alle Konzerte abgesagt.
"Ich schreibe lieber 10.000 Noten…
…als einen Buchstaben", schrieb Beethoven in einem Brief an seinen Freund und Musikverleger Nikolaus Simrock. Viele dieser Noten hat Beate Kraus in diversen Abschriften der Neunten und in der Vorlage für den ersten Druck gesichtet. Die Druckvorlage sowie Beethovens erstes Autorgraph dienten als Hauptquellen für die neue Ausgabe. Obwohl Beethoven die Buchstaben nicht so mochte, gibt es gerade zur Neunten auch einen regen Schriftwechsel. "Die Neunte Sinfonie hat so viele Quellen, dass es einen überwältigt", sagt Beate Kraus.
In jahrelanger Arbeit hat die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungsarchivs im Beethoven-Haus die Quellen ausgewertet und dabei auch Neues entdeckt. So konnte sie eine Kontrafagottstimme rekonstruieren, die in keiner anderen Partitur auftaucht, weil Beethoven sie nur in einer Randnotiz erwähnte. "Das wird anders klingen als bisher", sagt Kraus. "An der Stelle, wo der Solo Bariton das erste Mal die Freudenmelodie singt wird jetzt das Kontrafagott mitspielen. Das wird auch das normale Konzertpublikum sofort hören."
Neben der Partitur füllen über 160 Textseiten mit Erläuterungen den neuen Band. Ein Kapitel beschäftigt sich eigens mit der Entstehungsgeschichte.
Wie die Neunte wirklich entstanden ist
Beethovens Neunte Sinfonie wurde im Mai 1824 in Wien unter tosendem Applaus uraufgeführt. Der Auftrag kam eigentlich aus England. Drahtzieher war Beethovens ehemaligen Schüler und Freund Ferdinand Ries, der in London im Direktorium der Philharmonic Society saß. Beethoven hatte Ries förmlich gebeten, ihm diesen Auftrag zu verschaffen. Hoch und heilig versprach er der Society eine schnelle Lieferung und die Exklusivrechte an der Uraufführung.
Lange ließ er die Londoner auf das Werk warten und dann wurde die Neunte nicht etwa in England, sondern in Wien uraufgeführt. Doch damit nicht genug, Beethoven hatte auch noch gegen andere Regeln verstoßen: "Den Londonern, die eine Sinfonie bestellen – und eine Sinfonie hieß, ein reines Instrumentalwerk – dann ein Werk zu liefern mit Chor und Solisten und mit einem deutschen Text, das ist gelinde gesagt eine unglaubliche Unverschämtheit", sagt Beate Kraus in Bezug auf die damalige Zeit.
Heute ist genau diese "Unverschämtheit" weltberühmt. Die Melodie der Ode an die Freude ist seit 1971 Europahymne, das Autograph der 9. Sinfonie seit 2001 Weltkulturerbe.
Schillers (Ode) "An die Freude"
Erstmals in der Musikgeschichte schrieb Beethoven eine Vokalsinfonie. Als Textgrundlage diente Schillers Liedtext "An die Freude". Das Lied gab es bereits vor Beethoven in über 50 Vertonungen mit verschiedenen Melodien, die Beate Kraus in der neuen Ausgabe vorstellt.
Was kaum einer weiß: Schiller hatte den Text 1785 im Kreise seiner Freunde bei einem Glas Wein als Trinklied gedichtet. Das war vier Jahre vor der französischen Revolution ganz im Geiste von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Da hieß es etwa in der neunten Strophe gegen die "Tyrannen" der Regierung: "Rettung von Tyrannenketten, Großmut auch dem Bösewicht … Auch die Toten sollen leben, Brüder trinkt und stimmet ein, allen Sündern soll vergeben und die Hölle nicht mehr sein."
Beate Kraus hat den Text genau untersucht und herausgearbeitet, welche Wirkung Beethoven erzielt, indem er Textstellen wiederholt und in bestimmter Weise musikalisch unterlegt. "Beethoven hat ja nur weniger als die Hälfte des ursprünglichen Textes von Schiller verwendet", sagt die Musikwissenschaftlerin. So ist die Neunte Strophe von Schiller bei ihm gar nicht enthalten. Beethoven, so meint Kraus, stelle die Aspekte des Trinkliedes und den revolutionären Charakter in den Hintergrund. Stattdessen betone er das Odenhafte, das Erhabene.
Beethoven ein Revolutionär?
Auch Beethoven sympathisierte mit den Idealen der Französischen Revolution. Deshalb wird er heute gerne als Revolutionär gesehen. "Natürlich ist er Revolutionär, was sein Komponieren angeht", sagt Beate Kraus, "aber Beethoven zum politischen Revolutionär zu stilisieren, da wäre ich extrem vorsichtig."
Beethoven sei bei Hofe sozialisiert gewesen. Schon sein Großvater war Hofkapellmeister in Bonn. "Beethoven hat eigentlich lebenslänglich danach gestrebt, eine solche Position zu bekommen", erläutert Kraus. Allein die politischen Veränderungen und sein schlechter Gesundheitszustand hätten den Komponisten davon abgehalten, seinen Wunsch zu verwirklichen.
Auch als "unabhängiger" Komponist blieb der Adel sein Geldgeber. "Zu sagen, Beethoven wollte keine Stelle mehr bei Hofe, sondern der erste freischaffende Komponist der Musikgeschichte sein - das wird ja manchmal so stilisiert - halte ich für grundfalsch, weil es Ursache und Wirkung vertauscht."
Beethoven bleibt Europäer
Gerade im Beethovenjubliläumsjahr umrankt den Komponisten ein weiterer Mythos: Beethoven der Europäer. Die Textzeile "Alle Menschen werden Brüder" passt zu einem vereinten Europa in dem sich die Menschen aller Nationen die Hand reichen.
"Natürlich ist die Neunte ein zentrales Werk der Musikgeschichte und sie hat eine Botschaft", sagt die Intendantin des Beethovenfestes Nike Wagner. "Nur eben - Beethovens und Schillers Idealismus ist nicht mehr der unsere. Alle Menschen werden Brüder? Nicht, dass ich wüsste…" Immerhin würden diese Zeilen in der Hymne positiv gesehen. "Wir dürfen das nur nicht als erfüllte Prophezeiung hören, sondern als Hoffnung."
An ein Europa von heute hätte Beethoven noch gar nicht denken können, erläutert Beate Kraus. "Man geht sozusagen rückwärts und sagt: Beethoven ist der Komponist der Europahymne, also schließen wir daraus, er ist der große politische Vordenker Europas." Wenn Beethoven in Briefen von Gleichheit und Brüderlichkeit schrieb, dann ging es darum, dass Adlige und kirchliche Würdenträger nicht höhergestellt sein sollten als das einfache Volk. Es ging nicht um einen Zusammenhalt aller europäischen Länder.
Der französische Dirigent Francois Xavier Roth hält Beethoven trotzdem für einen Europäer, wenn auch in einem anderen Sinn: "Heute, wo wir so darum kämpfen, was unser Europa sein könnte, ist es sicher kein Zufall, dass die Leute diese Figur Beethoven als Treffpunkt unserer gemeinsamen Kultur brauchen."
Am 11. April (Teil 1) und am 12. April (Teil 2) zeigt die DW die zweiteilige Dokumentation "Beethovens Neunte – Symphonie für die Welt". Mehr Videos über Beethoven und seine Werke können Sie auf unserem You-Tube-Kanal DW Classical Music sehen.