Sehnsuchtsort: Der Wald kennt kein Corona
26. April 2020Wo einst Elfen und Hexen hausten, wo schon Goethe dichtete "Über allen Gipfeln ist Ruh", da zieht in diesen Tagen mit Macht der Frühling ein. Doch nicht nur der belebt das an Mythen und Versprechungen reiche Grün: Wegen der Corona-Pandemie ist Social-Distancing oberste Bürgerpflicht, und so zieht es jetzt viele Menschen in Deutschlands Wälder.
Was aber sucht der Mensch, wenn er in den Wald geht, zumal in Corona-Zeiten? "Schon als Sechsjähriger fand ich es toll, in der Natur zu sein", erzählt Peter Wohlleben, heute studierter Forstwirt, Bestseller-Autor und Chef einer Waldakademie in der Eifel, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Wegen seiner aufrüttelnden Thesen zur Zukunft des Waldes ist er häufiger Gast in TV-Sendungen. "Der Wald kennt kein Corona", sagt er, "die Tiere, die Bäume, die Insekten - hier ist alles wie immer, hier herrscht Normalität." Schon vor Ausbruch der Pandemie sei der Wald deshalb einer der wichtigsten Entspannungsräume gewesen. "Aber jetzt ist die Natur auch noch der einzige Raum, wo es keine Beschränkungen gibt."
Freies Betretungsrecht in deutschen Wäldern
Distanz zu halten, das ist in Deutschlands Wäldern machbar. Immerhin umfasst die Waldfläche mehr als 100.000 Quadratkilometer. Gut die Hälfte davon ist im Besitz des Staates. Und anders als in den USA gibt es in Deutschland - eine Besonderheit auch vieler skandinavischer Länder - ein sogenanntes freies Betretungsrecht: Waldbesucher dürfen, wenn sie wollen, querfeldein laufen und das zu jeder Tages- und Nachtzeit - nur Schutzgebiete in den Nationalparks sind ausgenommen. Für "eine tolle Errungenschaft des Sozialstaates", hält Wohlleben das - zumal jetzt, da wegen der vielen Corona-Verbote das Vertrauen der Menschen zum Staat auf eine besondere Probe gestellt ist.
"Für viele ist der Wald gerade jetzt ein Wohlfühlraum", stellt auch Rainer Brämer fest, Waldexperte im hessischen Lohra. Fast täglich ist er im Wald unterwegs. Brämer gilt als Deutschlands "Wanderpapst", seit er Mitte der 1990er Jahre mit Gleichgesinnten das Deutsche Wanderinstitut gründete. In Publikationen geißelt der Physiker und Waldpädagoge die grassierende Naturentfremdung der jungen Generation. "Im Psychotop Wald können wir unsere Instinkte ausleben", sagt er, "während in unserer Umwelt zunehmend technische Dinge dominieren."
Der Wald - Symbol der deutschen Identität
Seit jeher ist das Verhältnis der Deutschen zu "ihrem" Wald ein spezielles. Der Römer Publius Cornelius Tacitus beschrieb es noch als angstbesetzt. Auf seiner Schrift "Germania" gründet der Mythos vom dunklen schaurigen Wald, in dem Barbaren und Räuber ihr Unwesen treiben. Zweitausend Jahre ist das her. Bis heute prägt Tacitus unser Bild vom deutschen Wald. Freilich ist es überholt, wie Hansjörg Küster, Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Leibniz-Universität Hannover, in seiner "Geschichte des Waldes" festhält. "Das waren keine Urwälder mehr. Die Germanen haben auch Landwirtschaft betrieben, und Landwirtschaft kann man nicht in einem Wald betreiben, weil die Getreidepflanzen dort zu wenig Licht bekommen", so Küster zur DW. Lange vor Tacitus' Zeit sei der Wald menschlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Einzig auf die Römer habe er so feindselig gewirkt, dass sie ihn für einen Urwald hielten.
Bis heute gilt der Wald als Symbol der deutschen Identität. Dichter wie Rainer Maria Rilke oder Adalbert Stifter feierten ihn in lyrischer Verklärung: "Im welken Walde ist ein Vogelruf/Der sinnlos scheint in diesem welken Walde./Und dennoch ruht der runde Vogelruf/In dieser Weile, die ihn schuf,/Breit wie ein Himmel auf dem welken Walde./Gefügig räumt sich alles in den Schrei./Das ganze Land scheint lautlos drin zu liegen,/Der große Wind scheint sich hineinzuschmiegen,/Und die Minute, welche weiter will,/Ist bleich und still, als ob sie Dinge wüsste,/An denen jeder sterben müsste,/Aus ihm herausgestiegen." In diese Worte kleidet der österreichische Erzähler und Lyriker Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Moderne, ein banges Gefühl.
Zuvor haben schon Deutschlands Romantiker Gefühl und Herzschmerz in Literatur, Malerei und Musikästhetik gebannt. Joseph von Eichendorff (1788-1857) etwa lässt uns in seinem berühmten Naturgedicht "Sehnsucht" von 1834 von weiten Bergen, rauschenden Bächen und schönen, wunderhaften Sommernächten träumen. Caspar David Friedrich malt um 1818 seinen "Wanderer über dem Nebelmeer", dessen Blick sehnsuchtsvoll in die Ferne schweift. Robert Schumann (1810-1856) komponiert romantische Klavierwerke. Gedichte, Märchen und Sagen überhöhen den deutschen Wald als Sehnsuchtslandschaft. Die frühe Naturschutzbewegung im 19. Jahrhundert, der einsetzende Tourismus, erste Wandervereine sehen Wälder als Teil deutscher Kulturlandschaften. Noch die Nationalsozialisten reklamieren den Wald für ihre völkische Propaganda, stilisierten die Deutschen zum Waldvolk - in Abgrenzung zu angeblich minderwertigen Steppen- und Wüstenvölkern.
Waldfreunde klagen über Regelverstöße
"Der Wald als Rückzugsort, als Ort zum Nachdenken", konstatiert Matthias Groß, Umweltsoziologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, "das war nicht immer so!" Doch sollte man das romantisierte Verhältnis der Deutschen zu ihrem Wald nicht unterschätzen. "Das steckt noch tief in uns drin", sagt der Wissenschaftler. Und als Alternative zum Homeoffice tauge der Waldspaziergang allemal.
Sehr zum Missfallen mancher Waldfreunde hat der Run auf das beruhigende Grün in diesen Tagen erheblich zugenommen. Werner Fink, Vorsitzender der "Waldfreund Königsdorf" in Frechen bei Köln beklagt den coronabedingten Ansturm von Reitern, Hundebesitzern und Familien: "Viele kennen die Regeln des Waldes nicht", sagt Fink, dessen Bürgerinitiative sich vor zehn Jahren aus Protest gegen den massiven Waldeinschlag im Frechener Königsforst gründete, einem Buchenwald mit bis zu 100 Jahre alten Buchen. "Reiter traben durch das Unterholz, Hunde jagen Wildtiere, Spaziergänger verlassen die Wege", kritisiert Fink. "Mit all den Verstößen sind die Forstbehörden überfordert."
Der hannoversche Geobotaniker Küster hält den Wald ohnehin für eine "soziale Konstruktion" von Natur, in der zwar jede Pflanzenart der Evolution unterworfen sei, wo sich aber zugleich Kultur über die Natur stülpe. Dafür sorgten viele Waldbesitzer: "Der Wald leidet nicht unter dem Klimawandel, sondern unter einer jahrzehntelangen, naturfernen Forstwirtschaft", kritisiert auch Waldexperte Peter Wohlleben, "Plantagen sterben ab, den Rest besorgen Borkenkäfer und Trockenheit." Der Holzmarkt nehme nichts mehr ab, viele Waldbetriebe schrieben rote Zahlen.
"Ich sehe Corona - bei allem Leid - auch als gute Chance, hinterher nicht so weiterzumachen wie vorher", sagt Wohlleben. "Dafür braucht es nicht viele Milliarden, dafür genügt ein Umdenken!" Corona zeige aber auch, dass die Menschheit nach wie vor Teil der Natur sei - und extrem abhängig von ihr. Schon winzigste Naturstrukturen wie Viren könnten uns treffen. Der Waldexperte hofft nun auf einen Effekt der Entschleunigung, auf mehr Nachdenklichkeit und mehr Raum für die Natur. "Schon beim nächsten Spaziergang, wenn es im Wald mehr Insekten gibt und kühler ist, werden wir spüren, wie gut uns das tut."