Seenotrettung: Eine mentale Belastung
17. Juni 2015Deutsche Welle: Die "Sea Watch" ist im Hafen der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa angekommen. Welchen Kurs werden Sie ab dem ersten Juli im Mittelmeer einschlagen?
Ingo Werth: Wir werden in das Gebiet fahren, in dem die meisten Menschen in Seenot geraten und wo die meisten Menschen ertrinken: Wir fahren vor die libysche Küste. Dort patroulieren keine Frontex-Schiffe der Triton-Mission. Die meisten Unfälle aber passieren in der unmittelbaren Nähe des libyschen Hoheitsgebiets, weil die Boote, die dort losfahren, zu mehr nicht taugen.
Die wenigsten Flüchtlinge kommen überhaupt bis nach Lampedusa. Ihnen geht vorher meistens der Sprit aus oder ihr Bootsmotor geht kaputt. Oft gehen auch die Wasservorräte aus und die Menschen dehydrieren. Das Ziel von Sea Watch ist, eine fahrende Notrufzentrale und Erste-Hilfe-Station für diese Geflüchteten zu sein.
Wie wird Ihr Einsatz vor der libyschen Küste aussehen?
Unsere Aufgabe wird sein, seeuntüchtige Boote ausfindig zu machen. Wenn wir eins finden, müssen wir als erstes feststellen, in welcher Verfassung die Menschen sind und in welchem Zustand ihr Boot ist. Die "Sea Watch" wird eineinhalb Seemeilen (Anm. d. Red.: etwa 2,4 Kilometer) vor dem entdeckten Schiff stehen bleiben. Dann lassen wir das Schnellboot zu Wasser und ein Dreierteam, darunter ein Arzt, wird zu dem havarierten Boot fahren. Wir übergeben den Menschen ein Funkgerät. Dann wägen wir die Situation ab. Brauchen sie Lebensmittel, Wasser, Treibstoff oder sind sie sogar in akuter Seenot.
Wie sind Sie für den Ernstfall ausgerüstet?
Wir haben mehrere hundert Rettungswesten, -ringe und Rettungsinseln für bis zu 500 Menschen an Board. Wenn unser Schnellboot zurückkommt, werden wir Notrufe an die Handelsschifffahrt absetzen, die sich in der Umgebung befindet. Wir werden auch die Küstenwachen informieren, die dort unterwegs sein sollten. Wir werden nicht von dort versuchen die Menschen nach Lampedusa zu bringen. Das würden wir nur dann tun, wenn die Menschen in der Nähe von Lampedusa wären. Wir werden nur Schiffe anfunken, die diese Menschen dann übernehmen. Das wird vor allem die "Phoenix", das Schiff von MOAS sein. (Anm. D. Red.: MOAS ist eine gemeinnützige Stiftung auf Malta. Mit ihrem umgebauten Handelsschiff "Phoenix" retten sie Geflüchtete aus Seenot.)
Wie ist Ihre Crew zusammengestellt?
Wir haben eine acht-köpfige Crew. Es sind drei Mediziner, also Ärzte und Rettungssanititäter, ein Journalist und vier Schiffsleute an Board: ein Kapitän, ein Maschinist, ein Steuermann und ein Bootsmann. Auch die medizinische Crew hat nautische Vorerfahrungen. Wir haben aus 600 Bewerbungen die Helfer ausgewählt, die am besten für unsere Aufgabe qualifiziert sind. Es sind Leute dabei, die bei anderen Organisationen mitgefahren sind, wie Greenpeace oder Ärzte ohne Grenzen. Manchen waren auch in Afghanistan im humanitären Einsatz. Sie wissen, worauf sie sich einlassen. Diese Leute sind bis zu zwölf Tage auf ganz engem Raum, bei sehr hohen Temperaturen und unter Umständen einer ganz außergewöhnlichen mentalen Belastung ausgesetzt.
Sie werden es ja möglicherweise nicht immer schaffen, allen Menschen zu helfen. Haben Sie psychologische Betreuung?
Wir bereiten die Crew so vor, dass sie wissen, was es heißt, dort zu einem Seenot-Rettungseinsatz zu fahren. Es muss jedem klar sein, dass geholfen werden muss und dass es sein kann, dass wir auf Situationen treffen, die wir uns im Moment nicht vorstellen können.
Wir sind darauf eingestellt, dass wir einen Teil der Menschen bei uns an Board nehmen, nämlich in einer akuten Seenot, wenn Menschen drohen zu ertrinken. Wenn das der Fall ist, dann werden wir nur so viele Menschen aufnehmen können, dass auch die Sicherheit der Crew gewährleistet ist. Es kann durchaus die Möglichkeit bestehen, - im wirklich schlimmsten Fall - dass wir sterbende Menschen oder Menschen in Seenot zurücklassen müssen, weil unser eigenes Schiff nur eine begrenzte Aufnahmekapazität hat. Das muss jedem, der dabei ist, bewusst sein. Trotzdem ist es mir wichtig, vor Ort im Einsatz zu sein. Es wird keine Möglichkeit geben, mich davon abzuhalten.
Der Hamburger Ingo Werth wird ab dem 1. Juli als Kapitän die Sea Watch im Hafen von Lampedusa übernehmen und mit der Crew vor der libyschen Küste ehrenamtlich im Einsatz sein. "Sea Watch - Engagement für Geflüchtete, Seenotrettung im Mittelmeer", ist eine ehrenamtliche Initiative. Die Startkosten für das Projekt und der Kauf des Schiffes wurden aus privaten Mitteln der Initiatoren und Unterstützer finanziert, aber auch durch Spendengelder.