Seeigel können sehen
29. Mai 20112006 entschlüsselten Wissenschaftler das Genom des purpurnen Seeigels. Das war der Startschuss für Esther Ullrich-Lüter. Von da an konnte die Evolutionsbiologin gezielt die Gensequenz auswählen, die für Photorezeptor-Zellen typisch ist, und die für die Produktion eines bestimmten Proteins verantwortlich ist.
Antikörper Fluoreszenz sichtbar
Mit diesem Wissen stellte die Forscherin einen Antikörper her und legte dann Gewebeteile des Seeigels in eine vorbereitete Antikörperlösung ein. "Hinterher kann man mit einem Fluoreszenzfarbstoff unter einem Mikroskop erkennen, wo der Antikörper gebunden hat. Dort ist ein rotes, grünes oder gelbes Leuchten," erklärt die Wissenschaftlerin.
Nachdem die Forscherin herausgefunden hatte, wo die Photorezeptoren sind, konnte sie unter dem Elektronenmikroskop die Zellen auch erkennen. Früheren Forschern war dies nicht gelungen, weil die Zellstrukturen der Photorezeptoren viel feiner waren als die Wissenschaftler erwartet hatten.
Seeigel sehen mit ihren unzähligen Füßchen
Zudem kam erschwerend hinzu, dass mit einem Elektronenmikroskop nur Untersuchungen in einem sehr kleinen lokalen Bereich möglich sind. Man muss also vorher wissen, wo man suchen soll. Fündig wurde die Biologin letztlich in den Tausenden von Seeigelfüßchen, mit denen sich die Tiere an den Felsen festhalten.
Diese Füßchen sind auf der ganzen runden Körperoberfläche des Seeigels verteilt und in jedem Füßchen gibt es zwei Ansammlungen von Photorezeptoren. Eine Gruppe sitzt ganz außen, im Saugnapf des Füßchens, eine andere sitzt direkt am Skelett, also ganz nah am Körper des Tieres. Daraus schließt die Biologin, dass die Sinneszellen unterschiedliche Funktionen erfüllen.
Abschattung ermöglicht direktionales Sehen
Nur die Zellen in der Nähe des Körpers seien für das direktionale, das heißt, in eine Richtung weisende Sehen verantwortlich, erklärt Ullrich-Lüther: "Durch die Ausbuchtung des Kalkskelettes können die Tiere eine Abschattung der Photorezeptoren erreichen, das ist die Voraussetzung für direktionales Sehen". Eine Photorezeptorzelle im freien Raum könne zwar erkennen, ob das Licht an oder aus ist, aber nicht, woher das Licht kommt.
Um festzustellen, wie diese Abschattung funktioniert, bediente sich die Forscherin einer Mikro-Computertomographie. Diese funktioniert im Prinzip wie eine Röntgen-Computertomographie, wie sie in der Medizin zum Einsatz kommt, nur ist alles viel kleiner. Mit diesem Gerät konnte die Forscherin den genauen Abschattungswinkel der Kuhlen erkennen, in denen die Sinneszellen liegen. Sie fand heraus, dass er bei erwachsenen Tieren bis zu 272 Grad beträgt. Anders ist es bei Seeigel-Babies.
Denn wenn die Tiere sehr jung sind, ist ihr Kalkskelett noch nicht vollständig ausgebildet", erklärt Ullrich-Lüter. Deshalb sind junge Seeigel nicht in der Lage zu identifizieren, woher das Licht kommt. Durch diese Beobachtung konnte sie nachweisen, dass die körpernahen Zellen für die gerichtete Bewegung der Tiere -weg vom Licht- verantwortlich sind.
Komplexes Nervensystem bündelt Sinnesreize
Ein Seeigel hat gut 1500 solcher Füßchen. Weil es so viele sind, kann das Tier errechnen, aus welcher Richtung die Sonne kommt. Die Forscherin bezeichnet dies als "Komplexaugen-Effekt." All die Informationen werden durch ein leistungsfähiges Nervensystem zusammengeführt.
"Das Tier ist praktisch mit Nerven vollgestopft", erklärt die Wissenschaftlerin. Deshalb habe man lange geglaubt, dass die Reaktion des Tieres auf Lichtreize diffus und reflexartig in lokalen Bezirken der Haut gesteuert wird. "Es zeichnet sich aber ab, dass dieses Nervensystem eine sehr hohe Rechenleistung hat."
Dass die Steuerung des Tieres also zentral verrechnet wird, läßt sich auch experimentell zeigen: Wenn man nämlich bestimmte Nerven abkappt, funktionieren bestimmte Dinge nicht mehr. Zum Beispiel laufen dann die Füßchen nicht mehr mit.
Die Forscherin vermutet, dass das Tier dadurch sogar grobe hell-dunkel-Schema erkennen kann. So hätten andere Forscherkollegen in einem Experiment nachgewiesen, dass die Seeigel in einem Tank dunkle Scheiben einer bestimmten Größe erkennen konnten. Also sei zu vermuten, dass sie bis zu einem gewissen Grad tatsächlich hell-dunkel auflösen können. "Aber das hat nichts mit dem Sehen eines Bildes, wie bei Wirbeltieren zu tun," betont die Wissenschaftlerin.
Neben der Universität Bonn waren Forscher des SARS International Centre of Marine Molecular Biology der Universität Bergen, Norwegen, zusammen mit Kollegen der Stazione Zoologica Anton Dohrn in Neapel, Italien und des Sven Lovén Centre for Marine Science der Universität Göteborg in Schweden an der Studie beteiligt.
Autor: Fabian Schmidt
Redaktion: Judith Hartl