Schwulsein als Stigma in Nigeria
Vorwurf Homosexualität: Vor gut anderthalb Jahren wurden 57 Männer in Lagos vorübergehend festgenommen. Bis heute warten sie auf ein Gerichtsurteil. Eine Reportage von Reuters-Fotografin Temilade Adelaja.
Der Ort des "Vergehens"
Lagos am 26. August 2018: Um zwei Uhr morgens stürmt die Polizei in Nigerias Millionenmetropole das Kelly-Ann-Hotel, in dem gerade eine Geburtstagsfeier stattfindet. Die Beamten nehmen 57 Personen fest - Partygäste, aber auch Leute, die zufällig in der Nähe sind. Die Ermittler behaupten, die Männer hätten an einer homosexuellen "Initiationszeremonie" teilgenommen, und führen sie ab.
An den Pranger gestellt
Den Männern wird vorgeworfen, schwul zu sein. Sie sollen gegen Nigerias Anti-Homosexuellen-Gesetze verstoßen haben. Die nächtliche Festnahme reicht den Ermittlern nicht. Tagsüber werden die Männer öffentlich vor der Presse an den Pranger gestellt. Das Fernsehen zeigt Aufnahmen von ihnen, Videos davon werden massenhaft im Internet geteilt. Die Festgenommenen werden unfreiwillig landesweit bekannt.
Der unglückliche Gastgeber
Gastgeber der Geburtstagsfeier ist James Burutu. Innerhalb von Sekunden stürzt seine Party ins Chaos. Gäste versuchen, vor den Polizisten zu fliehen, die bewaffnet in das Hotel eindringen. Nur weil er sich gerade zufällig in einem Nebenzimmer um die weitere Organisation der Party kümmert, wird Burutu selbst nicht festgenommen. Seitdem fühlt sich der 25-Jährige schuldig am Schicksal seiner Gäste.
Neue Freunde
Obwohl ihn die Polizei nicht festnimmt, wird Burutu von seinen Verwandten verstoßen: "Viele Familienmitglieder wollen mich nicht mehr sehen." Auch seinen Job bei einer Möbelfabrik verliert er. Dafür gewinnt er einen Freund: Chris Agiriga (links im Bild), der nur auf der Party war, weil ein Freund ihn mitnahm. Er und Burutu kannten sich vorher nicht. Nun schweißt ihr Schicksal sie zusammen.
Ende der Karriere
Chris Agiriga wird von seiner Tante, bei der er lebt, vor die Tür gesetzt, als die Aufnahmen mit ihm im Fernsehen laufen. Er findet zunächst Unterschlupf in einer Kirchengemeinde, wird dort aber von einem Zimmergenossen gemobbt. Chris Agiriga verliert ebenfalls seine Arbeit, muss deshalb sein Modedesign-Studium aufgeben. Er versucht jetzt, sich als Änderungsschneider über Wasser zu halten.
Ehrenamt statt Job
Chris Agiriga engagiert sich zudem ehrenamtlich als HIV-Berater. "Ich bedauere es, zu der Party gegangen zu sein", sagt der 23-Jährige. "Ich habe meinen Job verloren, ich habe meine Familie verloren, ich habe viele meiner Freunde verloren - alles wegen dieser Sache."
Plötzlich unter Verdacht
Auch das Leben von Onyeka Oguaghamba liegt in Scherben. Er war früher Buchhalter. Jetzt hilft er ab und zu seiner Frau auf dem Markt und arbeitet als Fahrer. Der Familienvater schlief während der Razzia in der Nähe des Kelly-Ann-Hotels im Auto. So geriet er in die Fänge der Polizei und steht nun unter Verdacht, gegen das Gesetz gegen die gleichgeschlechtliche Ehe verstoßen zu haben.
Eine Familie unter Druck
Auch seine Familie muss leiden. Onyeka Oguaghambas Frau Juliette zahlte Schutzgeld an einen Mitgefangenen, damit ihr Mann im Polizeigewahrsam keine Prügel bekam, so wie viele andere Insassen. Ein Jahr war Oguaghamba arbeitslos, bis er wieder ein Job fand. Er ist deshalb immer noch im Zahlungsrückstand. Immer wieder wird der Strom abgestellt und die Familie sitzt dann im Dunkeln.
Fragen der Kinder
Seine vier kleine Söhne bekamen die Denunziationen zu spüren, als Onyeka Oguaghamba vier Wochen lang im Gefängnis war. Die Jungs hätten keine Ahnung gehabt, was Schwulsein bedeutet. "Sie fragten mich, warum die Polizei mich festgenommen hat und ich im Fernsehen zu sehen war", sagt der 42-Jährige. "Ich erklärte ihnen, dass die Polizei jeden jederzeit verhaften kann."
Ein Leben in Angst
Ein anderer Festgenommener lebt seit der Razzia und dem, was folgte, in ständiger Angst: Smart Joel berichtet, dass er schon dreimal von Gangs verprügelt wurde, die ihn aus dem Video wiedererkannten. "Ich fürchte mich andauernd", sagt der zierliche 25-Jährige. Im vergangenen Jahr hätten ihn Männer als den "verknackten schwulen Typen" bepöbelt und ihm Telefon, Geld und Armbanduhr abgenommen.
Dem Stigma trotzen
In den ersten Monaten nach dem Video sei es für ihn am schlimmsten gewesen. Auch heute würden die Leute immer noch auf ihn zeigen und ihn anstarren, erzählt Smart Joel. "Doch irgendwann musste ich nach vorne schauen, ohne andauernd an das Stigma, die Diskriminierung und die Pöbeleien zu denken."
Ungewisser Prozessausgang
Den Angeklagten drohen bis zu zehn Jahre Haft. Doch seit November hat Richter Rilwan Aikawa den Prozess schon mehrfach vertagt. Denn der Staatsanwaltschaft gelingt es nicht, ausreichend zu belegen, dass es auf James Burutus Geburtstagsfeier zu schwulen Handlungen kam - die in Nigeria verboten sind. Vorgeladene Zeugen erscheinen einfach nicht. Auch die Polizei schweigt.
"Missbrauch eines Gesetzes"
Xeenarh Mohammed ist Geschäftsführer der "Initiative für Gleichberechtigung", die die Angeklagten juristisch berät. Seiner Ansicht nach wird das Gesetz, das gleichgeschlechtliche Beziehungen verbietet, "immer und immer wieder dazu benutzt, Menschen wegen ihrer vermeintlichen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität zu schikanieren."