Schwierige Abwägung
12. Mai 2021Ob Alexandra Lützenkirchen vielen Patienten gute Nachrichten überbringen kann, erfährt die Kinderärztin immer am Donnerstagmittag. Dann erhält die Leverkusenerin die Ankündigungen für die Imptstofflieferungen der kommenden Woche. "Für diese Woche haben wir mit zwei Ärztinnen in der Praxis 24 Impfstoffdosen bekommen. Das sind vier ersehnte Fläschchen des Biontech-Pfizer-Impfstoffs. Bestellt hatten wir zwölf. Wir sind gerade sehr viel damit beschäftigt, Impftermine, die wir vereinbart haben, wieder zu verschieben."
Gut 100 Corona-Impfungen haben Lützenkirchen und ihre Kollegin in der Praxis bislang vorgenommen: Trisomie-21-Patienten, die 16 Jahre oder älter sind und andere schwer erkrankte Jugendliche haben sie erhalten, aber auch Eltern von Kindern mit einem hohen Risiko für einen schweren Corona-Verlauf. Einen "Run" auf die Impfungen kann die Ärztin bislang aber nicht feststellen: "Unsere berechtigten Patienten über 16 Jahre rufen wir aktiv an und bieten ihnen die Impfung an. Das klappt gut, aber ich bin erstaunt darüber, dass wir bislang sehr wenige Anfragen von gesunden Jugendlichen nach den Perspektiven für eine Impfung bekommen. Das beginnt gerade erst, nachdem die Patienten von der Zulassung in den USA gehört haben."
Die US-Arzneimittelbehörde hat Anfang der Woche den Corona-Impfstoff von BioNTech-Pfizer für Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 15 Jahren freigegeben - und war damit den kanadischen Behörden gefolgt. Noch am heutigen Mittwoch könnte ein Beratungsausschuss auf Bundesebene eine Empfehlung aussprechen und damit den Startschuss für die Impfungen geben.
Ende Mai könnte die EU grünes Licht geben
In den USA sollen die Impfungen des Nachwuchses der aktuell lahmenden Impfkampagne neuen Schwung verleihen. Und auch in Europa erhofft sich die Politik Fortschritte auf dem Weg zur Herdenimmunität mit der erweiterten Zulassung des Vakzins, die schon Ende des Monats für die EU vorliegen könnte. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) macht jedenfalls Tempo. "Wir versuchen, ob wir dies bis Ende Mai beschleunigen können", erklärte EMA-Chefin Emer Cooke in einem Zeitungsinterview. Studien des Herstellers BioNTech haben in der Altersklasse eine maximale Wirksamkeit und geringe Nebenwirkungen ergeben.
Nach einer Zulassung, so Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, könnten Reihenimpfungen in Schulen helfen, bis zum Ende der Sommerferien allen 12- bis 18-Jährigen ein Impfangebot zu machen und so den Schulbetrieb zu normalisieren. Voraussetzung: Die Eltern müssen ihren Nachwuchs auch immunisieren lassen.
Keine Notfallzulassung
Da Corona-Infektionen bei Kindern in der Regel mit weniger Symptomen einhergehen, stehen Eltern gesunder Kinder vor einer schwierigen Entscheidung. Entsprechend zurückhaltend reagiert auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). DGKJ-Präsident Jörg Dötsch verweist auf klare gesetzliche Einschränkungen: "Es ist immer ganz wichtig, dass eine Impfung oder eine medikamentöse Therapie bei Kindern nur dann zur Anwendung kommt, wenn sie einen direkten Nutzen für das Kind oder den Jugendlichen selbst hat. Die Hürden liegen deswegen so hoch, weil wir eine schutzbefohlene Gruppe haben, die zum Teil natürlich nicht für sich selbst entscheiden oder sprechen kann", so der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Kölner Universitätsklinik in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Deswegen sei es von absoluter Notwendigkeit, dass im Zentrum der Selbstnutzen, der eigene Nutzen für die Kinder und Jugendlichen stehe. Dötsch spricht sich aus diesen Gründen auch gegen eine Notfallzulassung der Impfung für die Heranwachsenden aus.
Auf den Kinderstationen der deutschen Krankenhäuser verlief die Pandemie bislang vergleichsweise ruhig. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) sind von rund 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland bis Mitte April etwa 1200 mit einer Sars-CoV-2-Infektion in ein Krankenhaus eingeliefert worden - fünf Prozent davon kamen auf die Intensivstation.
Deutschlandweit verzeichnet das Robert-Koch-Institut in der Pandemie bislang ein Dutzend COVID-19-Todesfälle bei der Gruppe der 0-9-Jährigen. Bei den 10-19-Jährigen sind es sieben.
Bislang kein Fall von Long-COVID
In ihrer Praxis in Leverkusen hat die Kinderärztin Alexandra Lützenkirchen zwar zahlreiche Sars-CoV-2-Infektionen registriert. Aber: "Wir hatten glücklicherweise kein einziges schwer an COVID-19 erkranktes Kind. Bei den Jugendlichen haben wir zwar Patienten gehabt, die sich einige Monate lang nicht fit gefühlt haben. Aber auch da kann ich nach Herz- und Lungenuntersuchungen bislang keinen Fall bestätigen, der auf Long-COVID hindeutet."
Doch nicht nur mögliche Langzeitfolgen, die bei Virusinfektionen nicht ungewöhnliche sind, machen Eltern Sorgen, auch das so genannte PIMS-Syndrom wird in den Medien immer wieder erwähnt. Vier bis sechs Wochen nach der Infektion kann diese seltene Immunreaktion bei Kindern und Jugendlichen auftreten und den jungen Organismus in eine Art Ausnahmezustand versetzen.
Skepsis in Israel
Die Angst vor Long-COVID und PIMS ist bislang das zentrale medizinische Argument für eine Impfung von Kindern und Jugendlichen. Neben der medizinischen Komponente gibt es bei der Corona-Impfung für Heranwachsende aber vor allem eine gesellschaftliche Dimension. Ist die Corona-Pandemie ohne Impfung der unter 16-Jährigen in den Griff zu kriegen? Sollten die Kinder nicht geimpft werden, so rechnen Epidemiologen vor, müsste der Anteil der geimpften Erwachsenen steigen, um die Pandemie zu stoppen.
Zu den Ländern, die besonders schnell ihre Bevölkerung durchgeimpft haben und nun auf eine Impfung von Kindern drängen, zählt Israel. Dort stagniert die Zahl der Geimpften seit gut zwei Monaten bei einer Marke von etwa 60 Prozent der Bevölkerung. Die Impfung von Kinder- und Jugendlichen der sehr jungen Gesellschaft würde dieses Niveau erhöhen. Doch bei einer Umfrage im Februar waren sich lediglich 41 Prozent der befragten Eltern sicher, ihr Kinder im Alter zwischen 6 und 15 Jahren impfen zu lassen - 29 Prozent lehnten das ab.
Pandemie auch ohne Impfung der Kinder zu stoppen?
Auch das Lager der Kinderärzte ist gespalten. Während der israelische Berufsverband die Impfung empfiehlt, haben sich fast 100 Ärzte in einem offenen Brief gegen eine Impfung für Kinder ausgesprochen. Die bisherigen Erfahrungen und Studien reichten für einen derartigen Einsatz nicht aus. Angesichts sehr niedriger Inzidenzen in Israel und weitgehender Freiheiten ist die Frage nach der Kinderimpfung im Land zwischenzeitlich auch etwas in den Hintergrund getreten.
Gut möglich, dass auch Europa bei Impfquoten von mehr als 60 Prozent der Bevölkerung auch ohne Kinderimpfung eine Normalisierung des Lebens wie in Israel möglich ist. Beate Kampmann von der London School of Hygiene & Tropical Medicine plädiert in dieser Frage zudem für einen Blick über die Landesgrenzen: "Wenn sich das Virus in einer Gesellschaft nicht mehr stark verbreitet und die vulnerablen Gruppen geimpft sind, vermeidet man mehr Leid durch die Weitergabe des Impfstoffs an Corona-Hotspots wie derzeit Indien, als durch das Impfen von Heranwachsenden hier", so die Professorin.
Wie entscheidet die Stiko?
Die Leverkusener Kinderärztin Alexandra Lützenkirchen wartet jetzt erst einmal auf die Entscheidung der EMA und die dann folgende Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko). Stiko-Vorsitzender Thomas Mertens hat sich zuletzt skeptisch geäußert, ob die Kommission überhaupt eine Empfehlung für eine flächendeckende Impfung für gesunde Heranwachsende aussprechen werde. Die Kommission muss abwägen, ob der Nutzen der Impfung die Risiken für den Einzelnen tatsächlich überwiegt.
Sollte es grünes Licht für die Impfung geben, hätte Lützenkirchen vor allem einen Wunsch: "Bitte keine neuen Priorisierungsvorschriften! Dann würde ich die Sommerferien gerne nutzen, um die interessierten Patienten auch bis zum Start der Schule durchzuimpfen. Die sollen dann einfach kommen können."