Schule in der Corona-Krise: Unterricht auf Abstand
7. Mai 2020Chantal Mertz steigt mit einem Lächeln auf ihr Fahrrad, setzt den bunten Helm auf und strampelt eifrig los. Die 16-jährige Berlinerin ist auf dem Weg zur Schule. Seit Mitte März, als die Schulen in der Hauptstadt - wie überall in der Republik - wegen der Ausbreitung des Coronavirus ihre Türen schlossen, war sie zu Hause. Diese Woche geht der Unterricht für sie wieder los. "Ich bin ein bisschen aufgeregt und gespannt, wie alles laufen wird. Aber grundsätzlich freue ich mich", sagt Chantal und grinst.
Angekommen mit ihrem Fahrrad winkt ihr schon die erste Klassenkameradin. Die beiden stürmen aufeinander zu, doch im letzten Moment bleiben sie ruckartig stehen. "Ach, nee, Mist, dürfen wir ja nicht. Komm, wir machen's anders!" Und mit Abstand klatschen sie einander mit den Ellenbogen ab. Dann kramen die Elftklässlerinnen tief in ihren Rucksäcken und setzen sich zwei Gesichtsmasken auf. Die sind jetzt überall auf dem Schulgelände Pflicht, außer in den Klassenräumen.
Schulstart mitten in der Epidemie
Seit vergangener Woche sind mehrere Klassen in Deutschland wieder zurück an ihren Schulbänken. In einigen Bundesländern haben Schüler schon ihre Abiturprüfungen abgelegt, in anderen stehen diese noch an. Bis zu den Sommerferien soll nach dem jüngsten Beschluss von Bund und Ländern möglichst "jede Schülerin und jeder Schüler einmal die Schule besuchen" können. Doch die Sicherheitsvorkehrungen sind streng: An Chantals Gymnasium muss zu jeder Zeit ein Sicherheitsabstand von mindestens 1,50 Metern eingehalten werden, schmale Gänge wurden zu "Einbahnstraßen", Tische weit auseinander geschoben. Das habe große Auswirkungen auf den Schulbetrieb, sagt Schuldirektor Dirk Kwee, während er durch eine fast leere "Einbahnstraße" seiner Schule läuft: "Um die Maßnahmen einzuhalten, mussten wir die Anzahl der Schülerinnen und Schüler in der Schule enorm einschränken. Wir haben hier normalerweise 900, die überall herumrennen; jetzt sind es nur ungefähr 240. Für mich fühlt sich das wirklich komisch an, wenn alles so ruhig ist."
Chantal geht durch die Eingangstür und direkt auf den Desinfektionsspender zu, zusammengebastelt aus einem alten Kartenhalter. Auf dem Boden davor kleben weiß-rote Streifen, die den Abstand zwischen den Wartenden garantieren sollen. Niemand drängelt, es wird kaum gesprochen. Für Chantal geht es heute zum Politikunterricht mit Herrn Quaiser. Er steht schon wartend an der Klassentür. Sein Lächeln scheint bis über die Ränder der Gesichtsmaske mit Fischmotiv zu klettern. "Herzlich willkommen zu unserer ersten Unterrichtsstunde. Ich habe mich richtig gefreut euch wiederzusehen. Und endlich an der Tafel 'rumzukritzeln. Deshalb machen wir heute ein super Tafelbild zusammen." Das Thema: die Corona-Krise und ihre Auswirkungen.
Abstandsregeln, Desinfektionsmittel, kleine Klassen
Chantal und ihre acht Mitschülerinnen und Mitschüler heben die desinfizierten Hände, argumentieren, diskutieren miteinander. Kaum eine Frage, auf die nicht mindestens drei eine Antwort hätten. Ihr Leistungskurs ist klein und musste deshalb nicht aufgeteilt werden. Doch für größere Klassen sieht das anders aus: In Deutschland dürfen in den meisten Bundesländern nur noch maximal 15 Schülerinnen und Schüler zusammen in einem Raum beschult werden. Das könne zu einem echten Hindernis werden, erklärt Florian Quaiser: "Unterricht in einer großen Gruppe, da kommt eine ganz andere Dynamik auf. Das ist eine ganz andere Interaktion, als wenn man das nur mit einem kleinen Teil der Klasse macht."
Im schlimmsten Fall bedeutet das für Lehrerinnen und Lehrer: Anstatt eine große Klasse zu unterrichten, müssen sie mit mehreren kleineren Gruppen direkt hintereinander den gleichen Lernstoff behandeln. Doch damit sei das aktuelle Arbeitspensum der Lehrer noch nicht erreicht, denn der Online-Unterricht gehe weiter, erklärt Schuldirektor Dirk Kwee: "Die kommen hierher, machen Präsenzunterricht. Dann geht es zu Hause weiter mit Videokonferenzen zusammen mit anderen Lerngruppen." Über ein Lernportal schickten die Schüler erledigte Übungsaufgaben, die korrigiert werden müssten. Insgesamt sei die Arbeitsbelastung der Lehrer somit deutlich höher als sonst, fügt er hinzu.
Das kann auch Florian Quaiser bestätigen: "Die größte Herausforderung für mich ist gerade, bei der aktuellen Kommunikation nicht durchzudrehen." In den vergangenen Wochen sei der Kontakt mit Schülern, Eltern und Vorgesetzten geradezu explodiert. "Man hat das Gefühl, man bespricht fünfmal das Gleiche, auf fünf verschiedenen Kanälen. Und gleichzeitig versuche ich, den Spagat zwischen Digital- und Präsenz-Lehrer gut hinzubekommen", fügt er hinzu und atmet einmal tief aus.
Mittlerweile hat sein Leistungskurs die ersten Versuche einer Gruppenarbeit und damit die Stunde beendet. Mehr oder weniger erfolgreich riefen sich die Schüler über ihre Bänke hinweg Argumente zu. Chantal verpackt ihre benutzte Maske in einen Plastikbeutel und holt eine frische aus einem anderen heraus. Die Schülerin ist zufrieden mit ihrem Tag, auch wenn sie beim Abschied von ihren Freundinnen am Schultor wieder vor dem gleichen Problem steht wie heute Morgen: "Wenn ich sie sehe, dann will ich sie einfach intuitiv umarmen und näherkommen". Doch sie hält Abstand, klatscht die anderen nur mit dem Ellenbogen ab. Von Normalität ist der Schulalltag noch weit entfernt.