Schulden machen - na und?
30. Oktober 2019Es könnte alles so einfach sein, glaubt man Larry Randall Wray. Seit 25 Jahren forscht der amerikanische Ökonom an einer Formel, um Arbeitslosigkeit, Rezession und soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Sein Ansatz basiert auf der Modern Monetary Theory, kurz MMT. Die wiederum geht zurück auf die "staatliche Theorie des Geldes", eine 100 Jahre alte Theorie des deutschen Wirtschaftswissenschaftlers Georg Friedrich Knapp. Das vollmundige Versprechen: Schulden machen ohne Reue.
Was wie ein Heilsversprechen klingt, macht auf den ersten Blick durchaus Sinn. Denn solange sich ein Staat in der eigenen Währung verschuldet, kann er nicht pleite gehen. Wenn Einnahmen fehlen, so die Argumentation der Ökonomen, können sie stets von der Notenbank finanziert werden. Staaten sollen demnach so viel Geld ausgeben dürfen, wie sie wollen. Der Zweite Weltkrieg, so Wray, habe gezeigt, welche "wirtschaftlichen Wunder" daraus entstehen könnten: "Schulden waren die Basis für das goldene Zeitalter des Kapitalismus", so Wray zur DW.
Mit seiner Theorie gilt Wray noch immer als ökonomischer Außenseiter. Zusammen mit dem Hedge-Fund-Manager Warren Mosler, ein weiterer Vordenker der MMT, versuchte Wray jahrelang, die für viele obskure Theorie salonfähig zu machen. Einfach Geld drucken, um Schulden zu finanzieren, klingt den meisten Wirtschaftswissenschaftlern jedoch zu waghalsig. "Viele verstehen uns einfach nicht", sagt der 66-Jährige. Er glaubt, dass falsche, reißerische Thesen zum schlechten Image der MMT beitragen.
Voodoo-Ökonomie?
Zu den vehementen Gegnern gehören die größten Wirtschaftswissenschaftler der Welt. Paul Krugmann etwa, Ökonomie-Nobelpreisträger und Kolumnist der "New York Times", wetterte bereits mehrfach gegen MMT. Kenneth Rogoff, ehemaliger Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF), bezeichnete die Theorie als Unsinn und Quacksalberei. Auch bei der amerikanischen Notenbank (Fed) stößt das Konzept auf Kritik. "Der Gedanke, dass Schulden keine Rolle spielen für Länder, die sich in ihrer eigenen Währung verschulden, ist meiner Meinung nach schlicht falsch", sagte Fed-Chef Jerome Powell im Februar vor dem Bankenausschuss des amerikanischen Senats.
Selbst Anhänger der Demokraten, die durchaus offen sind für höhere Staatsschulden, hadern mit der modernen Geldtheorie. In einem Gastbeitrag für die Washington Post bezeichnete Lawrence H. Summers, ehemaliger Wirtschaftsberater Barack Obamas und Finanzminister unter Bill Clinton, MMT als "Voodoo-Ökonomie" und "Weg in die Katastrophe". MMT-ähnliche Politikvorstellungen seien verantwortlich für die Hyperinflation in lateinamerikanischen Staaten wie in Venezuela. In den letzten Jahren sind die Preise dem IWF zufolge dort um zehn Millionen Prozent angestiegen.
Den MMT-Anhängern gibt Summers allerdings in einem Punkt recht: Fiskalpolitik müsse wieder stärker ins Zentrum der amerikanischen Regierung rücken. Zwar hat US-Präsident Donald Trump erst Anfang 2018 eine umfassende Steuerreform verabschiedet. Während Unternehmen profitierten, kommen die versprochenen Entlastungen nur langsam bei den Bürgern an.
Stattdessen zeigen sich die Nebenwirkungen, dem Staat fehlen die Einnahmen. Das Haushaltsdefizit der USA liegt bei fast einer Billion Dollar, das ist der höchste Stand seit sieben Jahren. Die massiven Steuersenkungen bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben hätten dem amerikanischen Haushalt eine massive Last aufgebürdet, sagen Experten. Nur MMT könne das wieder geraderücken, sagen die Anhänger der Theorie.
Mit Schulden aus der Krise
Kern des Konzepts ist eine neue Rollenverteilung zwischen Finanz- und Geldpolitik. Während sich Staaten normalerweise über Steuern finanzieren und die Notenbank Inflation verhindert, propagiert die moderne Geldpolitik umgekehrte Verhältnisse. Die Notenbank nimmt dabei die Rolle des Geldgebers ein: Sie finanziert die Regierung und schafft Kapital, wo Geld fehlt. So könne sie fast unbegrenzt Schulden machen, um Investitionen im Land anzukurbeln und Rezessionen zu vermeiden.
Populär ist die neue Theorie vor allem beim linken Flügel der Demokratischen Partei, der seit dem Wahlsieg Donald Trumps gestärkt ist. Sowohl der inzwischen parteilose Senator Bernie Sanders als auch Alexandria Ocasio-Cortez, die mit 29 Jahren jüngste Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus, befürworten die moderne Geldtheorie.
Sie soll die ökonomische Basis liefern für die teuren Sozialprogramme der Politiker. Neben umfangreichen Job-Garantien und dem "Green New Deal", der ökologischen Industriewende, gehört auch die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung dazu, die mehrere Billionen Dollar jährlich kosten würde. Höhere Staatsdefizite wären also nötig. Doch genau die seien dank MMT und Notenpresse kein Problem, argumentieren die Verfechter.
Die Argumentation einiger MMT-Befürworter bereitet konservativen Ökonomen Bauchschmerzen. "Sie verkaufen die Theorie über Wert", sagt etwa George Selgin, Direktor des Center for Monetary and Financial Alternatives am Cato Institute, einer libertären Denkfabrik. Es stimme zwar, dass sich Länder keine Sorgen darüber machen müssten, ihre Schulden nicht bezahlen zu können, weil immer genügend Geld nachgedruckt werden könne. Das geschehe aber nicht ohne Risiko. "Wer seine eigene Währung dafür missbraucht, riskiert Inflation", so Selgin zur DW.
Auch Scott Sumner, Professor an der George Mason University, warnt vor "üblen Nebenwirkungen" der MMT. "Schulden zu machen, um politische Projekte zu finanzieren, ist eine schlechte Idee", sagt der 64-Jährige. Die heutigen Defizite würden zu einer Last für kommende Generationen. Besser sei eine progressive Konsumsteuer, um die amerikanische Wirtschaft zu stützen.
Inflation, wo ist dein Stachel?
Es ist nicht so, dass die Anhänger der MMT blind wären für die Gefahren ihrer eigenen Theorie. "Wir wissen, dass ein Inflationsrisiko besteht", sagt Vordenker Wray, der mit dem Vorurteil sorgloser MMT-Ökonomen aufräumen will. Zwar ist der Geldwert der USA derzeit nicht gefährdet und der Dollar eine starke Währung. Sollte die Inflation allerdings ansteigen, haben auch MMTler eine Antwort. "Um die Kaufkraft der Konsumenten zu mindern, müssten wir die Steuern erhöhen", sagt der 66-Jährige, der bislang keine Umfrage dazu gemacht hat, wie das eigentlich bei den Bürgern ankäme. "Aus Ausgleich würden wir einfach später die Rentenansprüche im Alter erhöhen und die Sozialversicherung verbessern." Auch das wiederum schuldenfinanziert.
Vielleicht aber braucht es all das gar nicht, wie prominente Fälle wie die USA und Japan vormachen. Denn obwohl die US-Staatschulden so hoch sind wie nie zuvor, zog die Inflation nicht an. Im Februar fiel sie sogar auf den niedrigsten Stand seit September 2016. Auch der Anteil der Wähler, der den Abbau des staatlichen Defizits als oberste Priorität sieht, sinkt laut Umfragen stetig.
In Japan wiederum experimentieren Staat und Zentralbank schon seit einigen Jahren mit Elementen der MMT. Mithilfe der Notenbankpresse will die Regierung das hoch verschuldete, demografisch schrumpfende Land auf einen nachhaltigen Wachstumspfad bringen. Die Bank of Japan kauft dafür Wertpapiere in Größenordnungen, die die quantitativen Lockerungsübungen anderswo weit in den Schatten stellen. Die Inflation wiederum blieb bislang historisch niedrig.
Dass die japanische Notenbank ökonomische Gravitationskräfte auszuschalten scheint, ist vielen Ökonomen allerdings noch immer nicht geheuer. Wie lange die Notenbank das Kaufprogramm fortsetzen kann, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, bleibt ein Balance-Akt. Es ist ein spannendes Experiment, das MMT den Weg ebnen könnte - oder auch nicht.