Kevin Barry über Sprachkunst und Popkultur
17. November 2015DW: Kevin Barry, Irland ist zwar kein großes Land, doch sein Beitrag zur Weltliteratur ist immens. Es gibt so viele irische Autoren, man würde kaum fertig damit, alle aufzuzählen. Warum haben Sie sich für das Erzählen entschieden?
Kevin Barry: Wir Iren lieben den Klang unserer Stimmen. Wir lieben es, Geschichten zu erzählen. Und vielleicht hat es auch mit unserem Wetter zu tun, denn in Irland regnet es fast 300 Tage im Jahr. Wir sind zu Hause eingepfercht und haben nichts anderes zu tun, als uns gegenseitig mit verrückten Geschichten zu unterhalten. Ich denke, das ist eine ehrliche Erklärung für die große Tradition der irischen Literatur. So bin ich anscheinend ganz von selbst zum Geschichtenerzählen gekommen.
Ist das unvermeidlich, wenn man aus Limerick stammt?
Ich glaube, ja! Wenn ich heute meine Familie und die alten Freunde in Limerick besuche – jetzt lebe ich im Nordwesten des Landes, im County Sligo – dann erzählen wir uns immer wieder dieselben Geschichten. Die Einzelheiten der Geschichten sind dabei gar nicht so wichtig, es kommt viel mehr auf die Art und Weise an, wie wir sie erzählen und wie viel Vergnügen uns das macht. Es ist fast wie Singen.
2011 erhielten Sie den International Dublin Literary Award, der mit 100.000 Euro dotiert ist. Im Interview haben Sie mal gesagt: "Ich werde erst richtig zufrieden sein, wenn ich den Nobelpreis bekommen habe." Wie weit sind Sie auf Ihrem Weg zur Zufriedenheit?
Dieser Kommentar ist sogar auf meiner Wikipedia-Seite gelandet, aber er war natürlich nicht ganz ernst gemeint. Jetzt werden sie mir den Nobelpreis nie mehr geben. Bei der Überheblichkeit - keine Chance. Aber ein paar Preise habe ich schon gewonnen, was immer sehr schön ist! Besonders, wenn es einen Batzen Geld dazu gibt.
Sprechen wir von Ihrem Roman "Dunkle Stadt Bohane". Der Name klingt so echt, so irisch. Wie sind Sie darauf gekommen?
Der Anfang fiel mir sehr schwer, denn ich wusste, ich wollte in dem Buch meine eigene kleine Stadt bauen. Doch ich wusste nicht, wie ich sie nennen sollte. Monatelang hab ich unbewusst nach einem Namen gesucht. Dann hatte ich eines Nachts eine Vision. Ich wurde plötzlich wach, setzte mich auf und sagte laut "Bohane". Das Wort klang gut und fühlte sich richtig an. Eigentlich ist "Bohane" ein alter irischer Nachname, nicht sehr verbreitet. Perfekt für eine imaginäre Stadt an der Westküste Irlands.
Warum spielt das Buch im Jahr 2053, fast 40 Jahre in der Zukunft?
Das war für mich selber erstaunlich. Ich hatte zunächst keine Ahnung, dass das Buch in der Zukunft spielt. Im ersten Kapitel schrieb ich den Satz: "In Bohane sind die Tage der Diskos lange vorbei." Und ich erinnere mich, dass mir plötzlich klar wurde: "Wow! Das Buch spielt in der Zukunft!" Das war eine wunderbare Entdeckung, denn es bedeutete, dass ich Dinge erfinden und meiner Fantasie freien Lauf lassen konnte.
Es gibt weder Handys noch Computer, warum ist Ihre Zukunft so retro?
Während ich die ersten Kapitel schrieb, erkannte ich, dass es sich um so etwas wie einen Western handelte. Im Grunde genommen sind alle Typen in dem Buch klassische Westernhelden. Mir gefiel, dass überhaupt nichts Technisches vorkam. Nicht einmal Autos, lediglich alte Straßenbahnen. Ganz offensichtlich hat es irgendeine Katastrophe gegeben, aber wir erfahren nicht genau, was passiert ist. Diese Retro-Stadt machte mir großen Spaß. Die Geschichte spielt in den Fünfzigern, aber das hätte genaub so gut 2050, 1950 oder sogar 1850 sein können. Eine Art viktorianischer Zukunft. Manche Kritiker beschreiben mein Buch mit dem Begriff "Steampunk", der sonst manchmal auf Comics angewendet wird, und ich finde, das trifft es ziemlich gut.
Ist das eine Reaktion auf die rasanten Veränderungen in Irland? Die Zeit spielt in Ihrem Buch eine große Rolle.
Wenn ein Autor eine Geschichte in die Zukunft verlegt, dann spiegelt er darin immer die Gegenwart, oft in übersteigerter Form. Zwischen den späten 1990er Jahren und 2009/10 machte Irland einen enormen Wandel durch. Die ganze Grundstruktur des Landes veränderte sich. Die Wirtschaft wuchs rasant, brach dann wieder massiv ein und zum ersten Mal in der irischen Geschichte gab es eine enorme Einwanderung. Die Großstädte veränderten sich sehr, teils ganz wunderbar, teils aber auch zum Negativen und es gab Spannungen, die neu waren. "Dunkle Stadt Bohane" ist mein Roman zum irischen Boom, der diese Veränderungen etwas abstrahiert beschreibt. Mir war das gar nicht bewusst, so lange ich noch an dem Buch saß. Schriftsteller sind meistens die Letzten, die mitbekommen, wovon ihre Bücher handeln.
Sie haben "Bohane" als einen Epilog, als eine anti-realistische Geschichte bezeichnet. Daneben enthüllen Sie ihre Inspirationsquellen: Die Autoren Anthony Burgess, Cormac McCarthy und James Joyce gehören dazu. Deren Werke basieren auf den sozialen Umständen ihrer Zeit. Was sind die sozialen Fundamente von "Dunkle Stadt Bohane"? Oder gibt es die gar nicht?
Doch, ich denke schon. Vieles im Buch beruht auf meinen persönlichen Erfahrungen in Limerick und Cork, den Städten in denen ich aufgewachsen bin. Beide Städte konnten immer mal wieder sehr gefährlich sein, mit Bandenkämpfen und kriminellen Aktivitäten zwischen den verschiedenen Stadtteilen. Aber dass sich die Einflüsse der Pop-Kultur tausendfach in dem Roman wiederfinden, ist ebenso sicher. Besonders Filme, das Fernsehen und Comics haben mich stark beeinflusst, genau wie die Musik. "Uhrwerk Orange" von Anthony Burgess war extrem wichtig für mich. Um 2009 herum, als ich das Buch schrieb, waren US-amerikanische Serien wie "The Wire" oder die "Sopranos" der große Hit. "Bohane" ist sehr davon beeinflusst, zum Beispiel ist es sehr szenisch – eben wie eine Serie. Jemand hat mich darauf hingewiesen, dass sich das Buch über viele Seiten weg wie eine Graphic Novel liest. Man ist so vielen Einflüssen ausgesetzt, da kann man nur hoffen, dass es einem gelingt, etwas Eigenes, Originelles daraus zu machen.
Sie haben gerade ein neues Buch geschrieben. Wovon handelt es?
Es geht um John Lennon von den Beatles, der eine kleine Insel vor der Westküste Irlands besaß, die er in den 1960ern gekauft hatte. Er besuchte seine Insel nur zwei Mal, jedes Mal für eine Stunde. Ursprünglich wollte er ein Haus darauf bauen, doch dann vergaß er die Insel und überließ sie einer Kommune, irgendwelchen Hippies. Gegen Ende seines Lebens sprach er wieder von der Insel und davon, zurückzukehren und das Haus vielleicht doch noch zu bauen. Also stellte ich mir John Lennon im Jahr 1978 vor, wie er die Insel ein letztes Mal besucht. Er möchte eine Urschrei-Therapie machen, um aus einer kreativen Krise auszubrechen. Ich schicke ihn auf eine mysteriöse Reise durch den Westen Irlands.
Ich musste versuchen, für John Lennon einen überzeugenden Tonfall zu finden. Es war ein schwieriges Buch, ich habe fast vier Jahre dafür gebraucht. Es dauerte sehr lange, bis ich mit der Sprache des Buchs zufrieden war. Genau wie in "Dunkle Stadt Bohane" ist die Sprache die eigentliche Hauptdarstellerin des Romans. John Lennon war besessen von Autoren wie Dylan Thomas und James Joyce, daher versuchte ich, eine Stimme für ihn zu finden, die diese Einflüsse auch vermittelt. Es ist ein seltsamer Roman geworden, aber auch ein gleichzeitig sehr lustiger und trauriger. Er heißt "Beatlebone" – ich habe keine Ahnung, wie das je übersetzt werden sollte.
Und als nächstes kommt dann eine Fortsetzung von "Dunkle Stadt Bohane"? Mit den selben Figuren? Und wann wird es veröffentlicht?
Ich beginne meine Projekte immer an rituellen Daten. Den zweiten "Bohane"-Band möchte ich am kürzesten Tag des Jahres beginnen. Er wird fünf oder sechs Jahre nach den Ereignissen des ersten Teils spielen. Und ich weiß schon jetzt, dass zwei Figuren aus dem ersten Buch wiederkehren werden: Die beiden Frauen, "Jenni Ching" und die alte Dame "Girly" haben es immer noch in sich. Ich habe das Hörbuch für "Dunkle Stadt Bohane" selbst aufgenommen, und als ich es las, hatte ich am meisten Vergnügen an Jenni und Girly. Die beiden werden wir wieder treffen, und ich bin mir sicher, dass vieles verflixt schief gehen wird. Ich will diesmal schnell schreiben und das Buch schon 2017 veröffentlichen.