Schneechaos beim Bücherfrühling in Leipzig
17. März 2018Leser sind geduldige, genügsame Menschen. Sie können überall leben - solange sie das passende Buch zur Hand haben. Das gilt sogar dann, wenn der literaturhungrige Zeitgenosse nicht am knisternden Kamin oder in der Bibliothek zur gebundenen Leinenausgabe greifen kann, sondern auf Reisen, in überfüllten Zügen, in einem leicht zerknitterten Taschenbuch, oder neuerdings öfter im E-Reader schmökert.
Vielleicht ist es diesem charakterlichen Grundzug - ungeachtet aller Verschiedenheit der lesenden Individuen - zu danken, dass in der sächsischen Metropole auch ein Wintereinbruch im Vorfrühling den meisten Besuchern der Leipziger Buchmesse das kulturelle Vergnügen nicht zu trüben vermochte.
Kampf gegen Naturgewalten
Passionierte Leser wissen spätestens seit Ernest Hemingways Roman "Der alte Mann und das Meer", dass der Kampf gegen Naturgewalten gleichsam als Symbol für die Unwägbarkeiten des Lebens steht; dass derlei Situationen unangekündigt und womöglich im Augenblick größter Vorfreude auftreten - und dass sämtliches Aufbäumen in solch misslicher Lage nicht zum Sieg führen kann.
Die Anreise zum Leipziger Messegelände gestaltete sich in frostiger Kälte fast ebenso mühsam wie die Lektüre von Adalbert Stifters "Nachsommer" im warmen Wohnzimmer: Die Deutsche Bahn hatte den Hauptbahnhof der Kulturstadt, in der einst Johann Wolfgang Goethe studierte, wegen eingefrorener Weichen und Schneeverwehungen stundenlang gesperrt. Und die örtlichen Verkehrsbetriebe setzten kurzerhand auch den eigenen Fahrplan außer Kraft.
Hunderte Literaturenthusiasten warteten erwartungsfroh am Samstagmorgen auf eine Straßenbahn, die sie zur Bücherschau bringen könnte. Auch vor den Taxiständen am Bahnhof bildeten sich lange Schlangen. Das waren diejenigen, die es immerhin schon bis ins Zentrum geschafft hatten. Andere saßen womöglich noch in den Fernzügen fest, die wegen der Wetterunbilden umgeleitet wurden - und in Leipzig gar nicht erst hielten.
Weichen ohne Heizung seien die Ursache der Unpässlichkeiten gewesen, so ließ die Bahn verlauten, und der abschweifende Leser versucht sich vorzustellen, wie eine solche Weichenheizung wohl aussehen mag und wie man Weichen ohne derartige Einrichtung von den glücklichen, begünstigten Vertretern ihrer Art zu unterscheiden vermag.
Ein "Geländeroman" war es, der am Donnerstag den renommierten Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hatte. Esther Kinskys Werk "Hain" führt den Leser freilich in die italienische Wärme, doch Geländeerkundungen eigener Art nahmen auch viele ihrer Kolleginnen und Kollegen vor, die dringend zur riesigen Glashalle im Norden der Stadt mussten (wo die Fernsehsender ihre Messestudios aufgebaut hatten) oder zu einem der Stände, wo schon ein Mikrofon für sie bereitstand. Den meisten gelang es schlussendlich, auf verschneiten Pfaden ihr Ziel zu erreichen.
"Es sind nur einige wenige Lesungen abgesagt worden, weil die Autoren nicht rechtzeitig auf das Gelände kamen", sagte eine Sprecherin der Buchmesse. Generell sei der Besuch gut, die Hallen seien voll mit Menschen. Das stimmte auf jeden Fall. Doch die, die es geschafft hatten, sahen sich bald vor neue Probleme gestellt: wenn sie nach vielen Gesprächen und noch mehr umgeblätterten Buchseiten weiter mussten - zum nächsten Termin.
Ganz im Stil des englischen Gentlemans Phileas Fogg aus Jules Vernes Roman "Reise um die Erde in 80 Tagen" hatten sie nun jeden Schritt zu erwägen, um die bestmögliche Wahl des Verkehrsmittels zu treffen. "Verspätung etwa 140 Minuten" hieß es auf den Anzeigetafeln im Leipziger Hauptbahnhof - für den, der sich bis dahin wieder durchgeschlagen hatte.
Das reichte auf jeden Fall noch für einen Abstecher zu "Auerbachs Keller" im Zentrum der Altstadt, wo schon Faust, die Hauptfigur des wohl bekanntesten deutschen Dramas, eingekehrt war, um auf einem Weinfass wieder hinauszureiten. Weniger geistige als heiße Getränke reichte derweil die Deutsche Bahn den Wartenden an den Gleisen im Bahnhof. Einige mussten fünf Stunden ausharren, was genügend Zeit war, um etwa in Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" einen entscheidenden Schritt voranzukommen - so man das Werk zur Hand hatte.
Wer weiß, ob in diesen Minuten des verordneten Stillstands nicht gar ein Autor sein Notizbuch zückte und (auf der Suche nach der verlorenen Zeit) wenigstens ein paar Stichpunkte zu Papier brachte, aus denen im kommenden Frühjahr ein stattliches Buch geworden sein wird, das auf der Literaturmesse den ersten Weg zu seinen Lesern findet - dann aber hoffentlich bei besserem Wetter.