Schmutziges Geschäft
24. August 2012Es ist ein gespenstisches Bild: Dutzende von ausgemusterten Ozeanriesen und Containerschiffen liegen wie an einer Perlenschnur aufgereiht nebeneinander am Strand des kleinen Ortes Alang im westindischen Bundesstaat Gujarat. Bei manchen steht nur noch das Gerippe. Mehr als 170 Werften drängeln sich auf dem etwa zwölf Kilometer langen Küstenstreifen. Es stinkt nach Öl, Ruß und Staub. Auf dem Wasser schwimmt an vielen Stellen eine dickflüssige, braune Brühe.
30.000 Arbeiter wuseln in Stoßzeiten hier auf dem größten Schiffsfriedhof der Welt umher. Nur wenige tragen Kopfhörer, um sich vor dem ohrenbetäubenden Lärm zu schützen, den die Kräne, Sattelschlepper und das schwere Gerät verursachen. Sie kommen vor allem aus den armen Bundesstaaten Indiens, wie Bihar, Jharkhand, Orissa und Uttar Pradesh. Viele können kaum lesen und schreiben. Bis zu 9000 Rupien verdienen sie im Monat. Das sind umgerechnet etwa 150 Euro, viel Geld für sie. Dafür arbeiten sie sechs Tage die Woche, offiziell aber nicht länger als zwölf Stunden am Tag mit drei langen Pausen. Die meisten Arbeiter hausen in kargen, vor mehr als 20 Jahren gebauten provisorischen Wellblechbaracken, in denen es oft noch nicht einmal fließend Wasser gibt. Ein Skandal, denn eigentlich sollten die Arbeiter schon lange in festen Siedlungen leben.
Korrupte Beamte
Der Rechtsanwalt Vipul Sanghavi hat sich auf Arbeitsrecht spezialisiert. In den vergangenen 20 Jahren hat er Hunderte von Arbeitern des 1983 in Alang aufgebauten und heute größten Schiffsfriedhofs der Welt vor Gericht vertreten: "Es kommt in Alang oft zu Unfällen, weil schon mit dem Abwracken begonnen wird, bevor das ganze Öl aus dem Schiff herausgepumpt wurde. Eigentlich ist das laut Gesetz illegal. Doch die Werftbesitzer würden einen großen Verlust machen, wenn sie erst einmal das Öl abließen, was oft fast einen Monat dauern würde", erklärt Sanghavi. "Stattdessen schmieren sie die zuständige Behörde und erhalten eine Ausnahmegenehmigung." Doch so kann es zu Bränden und Explosionen kommen, wenn sich Restöl entzündet, weil es zum Beispiel mit einem Schweißbrenner in Berührung gekommen ist.
Mindestens sechzig Todesfälle gebe es pro Jahr, schätzt Sanghavi. Doch nach offiziellen Angaben sind es lediglich vier bis fünf Unfälle mit Todesfolge. Der Unternehmer Komalkant Sharma will davon nicht wissen. "Vieles ist in den letzten fünf Jahren in Alang besser geworden", protestiert er lautstark. Sharma besitzt selbst eine Werft in Alang. Die Kritik an den gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen und dem geringen Gehalt der Arbeiter hält er für von den Medien im In- und Ausland aufgebauschte Mythen: "Als wir 1983 in Alang begannen, die Werften aufzubauen, waren die Abwracker größtenteils einfache Schrotthändler, denen es nur um ihren Profit ging. Die neue Generation von Besitzern der Werften sind Ingenieure oder sie haben Betriebswirtschaft studiert. Natürlich haben sie eine ganz andere Denke." Komalkant Sharma betont, dass keiner seiner Arbeiter von den Aufsehern durch das Tor seiner Werft gelassen werde, wenn er nicht seinen Blaumann, seinen Helm, feste Stiefel, Schutzbrille und Schutzhandschuhe trage. An vielen Orten sieht man Schilder, auf denen in Leuchtschrift "Safety first" und "Safety is our motto" prangt.
Urteil des obersten Gerichtshofes
2006 hatte der oberste Gerichtshof Indiens, der Supreme Court, ein bahnbrechendes Urteil erlassen. Frankreich hatte einen Flugzeugträger der Marine, die "Clemenceau", in Alang abwracken wollen. Doch Umweltorganisationen wie Greenpeace hatten wegen der starken Belastung der "Clemenceau" mit Asbest und anderen Giftstoffen wie Arsen, Dioxinen und Schwermetallen dagegen protestiert. In diesem Zusammenhang verbot der oberste Gerichtshof nicht nur die Abwrackung der "Clemenceau" in Alang, sondern stellte Verstöße gegen die von der internationalen Arbeitsorganisation ILO vorgegebenen Standards unter härtere Strafen.
"In Indien sind nicht die Gesetze das Problem, sondern deren Implementierung", sagt Rechtsanwalt Sanghavi enttäuscht. Es sei eine Schande, dass allein im für Alang zuständigen Bezirksgericht im 40 Kilometer entfernten Bhavnagar inzwischen fast 7000 Fälle von Arbeitern seit Jahren nicht bearbeitet werden, weil Richter fehlen oder Verfahren verschleppt wurden. "Nur wenige Arbeiter klagen überhaupt", sagt Sanghavi schulterzuckend. "Die meisten kennen ihre Rechte doch gar nicht."
Harte Konkurrenz
Doch für die Abwracker von Alang geht es ums nackte Überleben. Noch werden weltweit etwa 40 Prozent der zu verschrottenden Schiffe in Alang abgewrackt. Etwa fünf Prozent des in Indien verwendeten Stahls ist recycelter Stahl aus Alang. Und nicht nur der Stahl wird recycelt. Um die Werften herum erstrecken sich über Kilometer kleine Läden, in denen man Rettungsboote, Toilettensitze und selbst Aschenbecher erwerben kann. Doch Chittagong in Bangladesch und Gadani in Pakistan holen in Sachen Recycling auf. Deshalb haben die Arbeiter Angst. Sie befürchten, dass die konsequente Umsetzung internationaler Sicherheitsstandards dazu führen könnte, dass die Abwrackung in Alang vielen zu teuer wird.
Kailash Sie aus dem indischen Bundesstaat Orissa ist 28 Jahre alt, sieht aber aus wie 40. Kein Gramm Fett findet sich an seinem sehnigen Körper. Seine Arbeitskleidung ist schon morgens um zehn Uhr durchgeschwitzt. "Ich lade aus den Schiffen herausgetrennte Stahlplatten auf Lastwagen", beschreibt Kailash Sie seine Arbeit. "Die Platten sind sehr schwer und oft scharfkantig, aber mir ist zum Glück noch nichts passiert." Seit 15 Jahren arbeitet er nun schon in Alang. Offiziell liegt das Einstiegsalter bei 18 Jahren. "Viele Arbeiter fälschen ihre Papiere, um eine Arbeit zu bekommen. Sie haben keine Schulausbildung, kommen aus ländlichen Regionen. Nur von der Landwirtschaft können kinderreiche Familien eben nicht leben", sagt Sanghavi. Immer mehr Teenager treibt der soziale Druck nach Alang. Nur mit der harten Arbeit auf dem Schiffsfriedhof können sie so weit weg von daheim ihre Familien versorgen.
Autorin: Priya Esselborn
Redaktion: Christine Harjes