Schleuser: Gefährlicher Freund, rücksichtsloser Ausbeuter
3. September 2015Zahlen erzählen nie die ganze Geschichte. Aber sie geben einen Eindruck von Dimensionen. Hier ist so eine Zahl: Allein im Juli haben 107.500 Flüchtlinge die EU-Außengrenzen überquert. Das sagt die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Die meisten dieser Menschen haben an irgendeiner Stelle ihrer Reise die Dienste von Schleusern genutzt. Was zu anderen Zahlen führt: 71 tote Flüchtlinge in einem Lastwagen in Österreich Ende August; rund 500 Flüchtlinge auf zwei Booten, die ebenfalls Ende August vor der libyschen Küste ertrinken; rund 800 Tote beim Schiffbruch eines Flüchtlingsschiffes im April vor Lampedusa. Insgesamt sind nach Angaben der Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen UNHCR in diesem Jahr über 2400 Migranten bei der Fahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen.
Eine Zahl hätte man gerne: Wie viel diejenigen verdienen, die verzweifelte Menschen auf seeuntüchtige Schiffe pferchen und dann ihrem Schicksal überlassen oder die sie in schlecht belüftete Lieferwagen zwängen. Das lässt sich nur schätzen. Eine dieser Schätzungen stammt von der UN-Organisation gegen Drogen und Kriminalität, UNODC. Die geht von Erlösen aus dem Schleusertum nach Europa von rund 150 Millionen Euro jährlich aus. Die Zahl dürfte überholt sein. Sie basiert auf der längst nicht mehr aktuellen Schätzung von rund 55.000 Menschen, die jährlich nach Europa geschmuggelt werden. Rechnet man die UNODC-Schätzung auf den Monat Juli hoch, kommt man auf die stolze Summe von 300 Millionen Euro Profit für die Schleuser.
Ein Markt auch für Gelegenheitsschmuggler
Ein beachtlicher Markt. Und – wie Tuesday Reitano von der Global Initiative against Transnational Organised Crime anmerkt: Ein Markt, in den man leicht eintreten kann. Reitano verweist im DW-Interview auf Gelegenheitsschmuggler am Kanaltunnel, die für rund 1500 Euro ein oder zwei Migranten mitnehmen auf dem Weg von Calais nach Dover.
Deswegen erscheint der Kampf gegen das Schleusertum auch wie der Kampf gegen eine Schlange, der drei neue Köpfe wachsen, wenn man einen abschlägt. Michael Rauschenbach, bei Europol zuständig für die Bekämpfung des Organisierten Verbrechens, ficht das nicht an. Aber erst muss er das dunkle Reich der Schleuser genauer ausleuchten: "Es ist wichtig, dass man bei Europol die Informationen zusammenführt: Über die Schleuserbanden und organisierten Kriminellen in den Staaten, aus denen die Migranten herkommen, über die Transitstaaten bis hin zu den Staaten in Europa, wo dann die Migranten am Ende ankommen", betont Rauschenbach im Gespräch mit der DW. Auf Basis dieser Informationen könne man gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten koordinierte Ermittlungen gegen die Schleuserbanden führen. "Wir wollen sie eben nicht nur an einem bestimmten Punkt in der EU oder außerhalb der EU treffen, sondern wirklich in ihrer Gesamtheit. So, dass sie lahmgelegt werden, dass die Hintermänner verhaftet werden, dass die Finanzen sichergestellt werden", betont der Europol-Mann.
Verhaftungen ein Tropfen auf den heißen Stein
Gelegentliche Europol-Erfolge bleiben nicht aus: Etwa das Ausheben eines chinesischen Schleuserrings in Spanien Ende Juni, die Verhaftung von mehreren Menschenschmugglern in Deutschland Anfang Juni oder auch die europaweite Verhaftung von 77 Mitgliedern eines Schleuserrings im März. Und doch erscheinen diese Fahndungserfolge eher wie der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein. Denn strukturell sind die Schleusergruppen schwer zu infiltrieren. Die Menschenschmuggler arbeiteten fast ausschließlich mit Leuten ihrer eigenen Nationalität zusammen, erläutert Kriminalitätsexpertin Reinato. In der Regel schleusten Nigerianer keine Syrer, Syrer keine Afrikaner. Die enormen Geldsummen werden überwiegend am etalierten Bankensystem vorbei transferiert. Über das informelle Hawala-System ließen sich Hunderttausende von Euro ohne Beleg hin- und herschieben, so Reitano. Der Ermittlungsweg entlang der Geldströme führe so ins Leere.
Vor allem aber: Der lukrative Markt ist weiter da. Der syrische Bürgerkrieg treibt Hunderttausende nach Europa. Andere fliehen vor Verfolgung. Wieder andere erhoffen sich im reichen Norden einen Ausweg aus wirtschaftlicher Chancenlosigkeit. Der italienische Kriminologe Andrea di Nicola bringt es auf den Punkt, wenn er das Schleusertum als einen Markt beschreibt, der von einer enormen Nachfrage verzweifelter Menschen befeuert wird. Im DW-Interview schildert Di Nicola seine Begegnungen mit Migranten – und er zitiert ihre Haltung: "Wenn ich zu Hause bleibe, sterbe ich. Nur wenn ich die Dienste dieses Schleusers nutze, habe ich eine Chance. Ich weiß, ich kann dabei sterben. Aber es ist besser, ich sterbe auf der Überfahrt, als zu Hause," gibt der Italiener wieder, was ihm Flüchtlinge erzählt haben.
Zwei grundverschiedene Systeme
Die Kriminalitätsexpertin Tuesday Reinato weist auf wesentliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Routen nach Europa hin. Westafrikanische Migranten etwa würden für jede Etappe ihrer Reise einzeln bezahlen – und das im voraus. "Deshalb sind die auch am stärksten gefährdet. Denn die Schleuser haben ihr Geld schon in der Tasche – ob die Migranten nun an ihrem Ziel ankommen oder nicht."
Ganz anders aber die Flüchtlinge aus Eritrea oder besonders Syrien. Speziell die haben laut Reinato ein besonders ausgefeiltes System im Umgang mit den Schleusern entwickelt. Der vereinbarte Preis wird an neutraler Stelle hinterlegt und erst freigegeben, wenn der Migrant sein Ziel – oder auch Zwischenziel - erreicht hat.
Der syrische Flüchtling Alaa Houd erzählte der DW, wie das bei seiner Reise von der Türkei nach Griechenland war. "Ich musste zuerst das Geld für die Überfahrt in einer Wechselstube deponieren. 1150 Euro sollte die Überfahrt kosten. In der Wechselstube liegt das Geld dann eine Woche, bevor es entweder an mich zurück geht oder an den Vermittler. Wäre es binnen einer Woche nicht losgegangen, hätte ich mein Geld wieder abholen können. Die Wechselstuben nehmen 50 Euro pro Person für das Deponieren."
Unverzichtbar für Flüchtlinge: Das Smartphone
Die Flüchtlinge tauschen sich intensiv über die Wege nach Europa aus. Der Hamburger Migrationsforscher Vassilis Tsianos geht sogar so weit zu sagen: "Information ist die wichtigste Ware, die man für die Grenzüberschreitung nach Europa braucht." Deshalb seien brauchbare Smartphones für den Flüchtling im 21. Jahrhundert unverzichtbar, so Tsianos. Mit denen würden die Flüchtlinge auch Zugang haben zu den Hunderten von Facebook Gruppen, die sich mit den Wegen nach Europa beschäftigen: "Auf den Facebook-Gruppen werden die verschiedenen Schleuser auch evaluiert. Und es gibt im Internet auch Angebote von Schleusern – mal mehr, mal weniger getarnt," führt Tsianos aus.
Eine kurze Recherche von arabisch-sprechenden Kollegen bei der DW zum Beispiel führte zu einer Facebook-Seite mit dem Titel "Für Syrer, die in Europa Asyl suchen". Die Seite hat über 3000 Likes. Ein kurzes Video zeigt den Blick von der türkischen Küste zu einer griechischen Insel. Die sei nur zwei Kilometer entfernten, heißt es im Text. Anfragen werden aber nicht auf der Hauptseite beantwortet, sondern nur als individuelle Nachricht. Auf der Seite meldet sich auch ein Konkurrent zu Wort: Der bietet die gleiche Schleuserleistung zum halben Preis an und hat auch gleich eine Telefonnummer angegeben. "Die Kriminellen reagieren wie alle Kriminellen in der Organisierten Kriminalität sehr schnell auf alle möglichen Entwicklungen, die es ihnen leichter oder schwerer machen, ihre Straftaten zu begehen", resümiert Michael Rauschenbach von Europol.
Die Informationsrevolution im Schleusergeschäft hat aber noch einen Effekt: Inzwischen gibt es Facebook-Gruppen, die Tipps austauschen, wie man gänzlich ohne Schleuser die Grenzen nach Europa überwinden kann.