Schlaflos in Santiago
26. Januar 2013Natürlich wollte auch das Europäische Parlament ein Positionspapier zum bevorstehenden Gipfel verfassen. Und natürlich versäumt es auch dieses Papier nicht, das Treffen europäischer und lateinamerikanischer Spitzenpolitiker als große Chance zu würdigen, um "klare politische Verabredungen" und weitere Fortschritte bei den Verhandlungen zu erzielen.
Doch einen kleinen Seitenhieb konnten sich die Euro-Parlamentarier nicht verkneifen: Die Resolution fordert "stabile Rahmenbedingungen zum Schutz von Investitionen" und bedauert die jüngsten "protektionistischen Maßnahmen" einiger lateinamerikanischer Staaten. Namen werden nicht genannt, aber es ist klar, wer mit dieser Kritik gemeint ist: ausgerechnet die beiden größten Volkswirtschaften des Mercosur-Staatenbundes, Brasilien und Argentinien, die ihre Märkte mehr und mehr abschotten.
Jenseits der GipfelrhetorikAnmerkungen wie diese zeigen, dass nicht alles so rund läuft in den Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika, wie es die Gipfelrhetorik gerne hätte. Zwar ist die Europäische Union der größte Handelspartner des Mercosur. Die europäischen Investitionen haben sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt und liegen mit mehr als 600 Milliarden Dollar weit über denen der USA. Doch das große Ziel eines Freihandelsabkommens, über das EU und Mercosur seit Jahren verhandeln, liegt in weiter Ferne. Statt Konsens bestimmen wechselseitige Klagen vor der Welthandelsorganisation die Beziehungen. Auf der anderen Seite des Kontinents dagegen haben die Pazifik-Staaten Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko schon lange bilaterale Abkommen mit europäischen Ländern geschlossen.
Zudem verunsichern die dynamischen Volkswirtschaften Lateinamerikas die krisengeschüttelten Europäer zusehends: "Die meisten haben in den vergangenen 10 bis 15 Jahren eine Menge erreicht. Das ist ein Eckpunkt für ein neues Gleichgewicht der Beziehungen", sagt Christian Leffler, Direktor für Nord- und Südamerika im Europäischen Auswärtigen Dienst. Und mit der Wirtschaft wächst das Selbstbewusstsein: Alfredo Moreno, Außenminister des Gipfelgastgebers Chile, erklärte, Lateinamerika sei nicht länger Teil des Problems, sondern eine Quelle für mögliche Lösungen. Und Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner wird nicht müde zu betonen, dass die ökonomischen Konzepte der USA und Europas doch wohl eher nicht der richtige Weg seien.
Neues Selbstbewusstsein
Die Gastgeber treten zum ersten Mal als "Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten" (CELAC) auf, eine Gruppe, in der außer den USA und Kanada alle amerikanischen Länder vertreten sind. Die CELAC kann gut damit leben, dass demnächst 15 ihrer Mitglieder aus den sozialen Förderprogrammen der EU gestrichen werden - schließlich muss Europa sparen, und Lateinamerika hat es nicht mehr nötig, um finanzielle Hilfen zu betteln.Stattdessen solle die CELAC in Santiago de Chile ihre eigene Agenda setzen, fordert Héctor Casanueva, Direktor des Lateinamerika-Zentrums für Beziehungen zu Europa: "Sie muss der EU einen Fahrplan für zukünftige Zusammenarbeit präsentieren, der die wechselseitigen Interessen einschließt, wie Umweltschutz, Energiefragen, Forschung und Entwicklung und Bildung. Dabei muss die CELAC ihren Teil der Verantwortung für Gestaltung, Finanzierung und Steuerung solcher Programme übernehmen." Diplomatische Unterhändler, die den Gipfel vorbereiten, werden noch deutlicher: Europäische Investitionen müssten positive Nebenwirkungen auf die Zivilgesellschaft, die Umwelt und die Interessen der indigenen Völker des Subkontinents haben – so müsse es in der Abschlusserklärung stehen.
Kleine Verträge oder große Würfe?
Dagegen scheinen die Ziele der Europäer eher klein: Sie beharren auf der Sicherheit ihrer Investitionen und dem Schutz vor staatlichen Eingriffen wie Enteignungen - Forderungen, an die die in letzter Zeit massiv in Lateinamerika investierenden Chinesen nicht einmal denken.
Angesichts dieser Ausgangssituation glaubt der Politologe Juan Tokatlián von der Universität Torcuato di Tella in Buenos Aires nicht an einen großen Wurf in Santiago: "Über die Konjunktur hinweg gibt es eine langjährige strukturelle Distanzierung zwischen der EU und Lateinamerika, mit einer immer weniger zusammenfließenden Tagesordnung." Mit schöner Gipfelrhetorik alleine wird sich daran kaum etwas ändern.