Schiffswrack als Mahnmal für Europa
13. Dezember 2016Der 18. April 2015 ist ein Samstag. Rund 800 Menschen besteigen an der libyschen Küste ein namenloses Holzschiff. Lange und gefährliche Wege haben sie bis hierher zurückgelegt. Sie stammen aus Äthiopien und Bangladesch, der Elfenbeinküste, Eritrea, Gambia, Guinea, Mali, dem Senegal, Somalia und dem Sudan. Nun erwartet sie eine lebensgefährliche Seefahrt Richtung Italien. Wer hier an Bord geht, hofft auf ein neues Leben in Europa.
Schleuser und Helfer drängen die Passagiere, die 1500 bis 2000 Dollar pro Person gezahlt haben sollen, auf den alten Fischkutter. Im Frachtraum und im Maschinenraum zwängt man junge Männer zusammen, immer enger und enger, bis zu fünf Menschen pro Quadratmeter. Es bleibt kaum Luft zum Atmen. Man schließt sie ein. Wer oben auf dem Schiff unterkommt, ist etwas besser dran.
Heimaterde, heilige Schriften und ein Kind in Jeans
Die Passagiere tragen Telefonnummern bei sich und Fotos von Angehörigen. Einer hat ein Heiligenbildchen dabei, ein anderer etwas Erde aus seiner Heimat. Jemand hat eine Bibel eingesteckt, andere einen Koran. Viele haben Pässe und Dokumente in ihre Kleidung eingenäht. Es sind nur wenige Frauen dabei. Mehr als ein Drittel sind Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren. Unter ihnen ist ein Kind in einer Jeans mit dem Namen des englischen Fußballclubs "Manchester United".
Nur 28 dieser Menschen erreichen Europa. Zwei der Überlebenden hat die italienische Justiz jetzt in Catania verurteilt: den tunesischen Kapitän zu 18 Jahren Haft, seinen syrischen Mitangeklagten zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe. Die Richter halten den Kapitän für schuldig in allen Anklagepunkten: mehrfache fahrlässige Tötung, Herbeiführung eines Schiffbruchs und Beihilfe zur unerlaubten Einreise. Sein syrischer Helfer wird wegen Menschenschmuggels verurteilt. Andere Überlebende hatten beide beschuldigt, Schleuser zu sein. Die beiden hatten ihre Unschuld beteuert. Was war passiert?
Verzweifelte Schreie der Eingeschlossenen
In der Nacht auf den 19. April 2015 ist das überladene Schiff mit den Flüchtlingen etwa 140 Kilometer von der libyschen Küste entfernt. Die italienische Küstenwache empfängt einen Notruf und alarmiert ein Handelsschiff in der Nähe. Der portugiesische Frachter King Jacob eilt zu Hilfe. Offenbar kollidieren beide Schiffe.
Als die Menschen alle auf eine Seite drängen, kippt das Flüchtlingsschiff, es kentert, beginnt zu sinken. Überlebende sagen später, die panischen Schreie der im untersten Deck eingeschlossenen Menschen würden sie nie mehr vergessen. Hunderte Menschen werden mit dem Schiff auf den Meeresboden gezogen.
Carlotta Sami, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) für Südeuropa, schildert der DW, wie die wenigen Überlebenden am nächsten Tag auf Sizilien ankamen: "Es war drei Uhr morgens. Sie zitterten, waren unendlich müde und schwach, sie hatten eine höllische Erfahrung hinter sich. Ihre Augen blickten ins Leere."
Matteo Renzi: Die ganze Welt soll es sehen
Direkt nach der Katastrophe gibt es ein Krisentreffen der EU-Außen- und Innenminister und einen vagen Zehn-Punkte-Aktionsplan zur Migration, kurz darauf einen EU-Sondergipfel. Die EU will Schleuser bekämpfen und die Seenothilfe wieder ausweiten. Die hatte sie nach dem Ende der italienischen Mission Mare Nostrum im Herbst 2014 extrem reduziert.
Die Forderung aber, Flüchtlinge per Quote gerecht in Europa zu verteilen, stößt auf erbitterten Widerstand. Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi kündigt an, das Wrack vom Meeresboden bergen zu lassen. "Ich will, dass die ganze Welt sieht, was geschehen ist", sagt er dem Sender RAI. Es sei nicht akzeptabel, dass einige Regierungen nach dem Motto handelten: "Aus den Augen, aus dem Sinn."
Nach Tauch-Erkundungen und monatelangen Vorbereitungen wird das Wrack mit den Toten Ende Juni 2016 aus 370 Metern Tiefe ans Tageslicht geholt. Wasser strömt heraus und mit ihm menschliche Gebeine. "Dieses Schiff enthält Geschichten, Gesichter, Menschen, nicht nur eine Zahl toter Körper", schreibt Regierungschef Renzi auf Facebook. Er habe die Bergung angeordnet, um "unseren Brüdern und Schwestern ein Begräbnis zu geben". Es gehe um das Recht auf Erinnerung und darum, Europa zu warnen, "welche Werte wirklich zählen".
Man bringt das 23 Meter lange Wrack nach Sizilien, dort hat man ein 30 Meter langes Kühlzelt vorbereitet. Tag und Nacht arbeiten Feuerwehrleute, um die sterblichen Überreste nach mehr als 14 Monaten unter Wasser aus dem abgeriegelten Fracht- und Maschinenraum zu holen. Sie können nicht fassen, wie eng die Menschen dort zusammenpresst waren. Psychologen betreuen die Helfer.
Bei Flugzeugabstürzen Routine, bei Flüchtlingsschiffen Premiere
Die Mailänder Rechtsmedizinerin Cristina Cattaneo leitet das Team der Pathologen. Monatelang arbeiten sie daran, die Leichenteile, Kleidungsstücke und persönlichen Habseligkeiten wie Fotos, Pässe und Erinnerungsstücke einzelnen Menschen zuzuordnen. Sie nehmen DNA-Proben und dokumentieren alles. Viele junge Doktoranden haben sich freiwillig für die belastende Arbeit gemeldet. Opfer, deren Namen man nicht kennt, weist man eine Nummer zu und begräbt sie.
UNHCR-Sprecherin Carlotta Sami war dort und berichtet, wie beeindruckt alle davon waren, den Ertrunkenen aus dem Flüchtlingsboot so nahezukommen. Bei Flugzeugunglücken sei es Routine, nach Leichen zu suchen und alles sicherzustellen, aber in einem solchem Fall sei es das erste Mal gewesen: "Das ist so wichtig, denn es waren menschliche Wesen wie alle Menschen. Sie haben sie dort zum ersten Mal als Menschen gesehen."
Eine AP-Reporterin ist dabei, als die Forensikerin Cattaneo vorsichtig eine Hose abspült. Es ist die Kinderjeans mit der Aufschrift "Manchester United". Auch ein siebenjähriger Junge war unter den Toten.
Cattaneo betont, wie wichtig es sei, dass Menschen Klarheit bekommen über das Schicksal ihrer Angehörigen - aus emotionalen Gründen, aber auch, um rechtliche Dinge klären zu können. Sie arbeitet mit dem Büro für vermisste Personen und dem Roten Kreuz zusammen.
Empathie wecken in Brüssel
9,5 Millionen Euro hat Italien für die Bergung des Bootes und die Identifizierung der Toten investiert. Matteo Renzi wollte es nicht dabei belassen. Er kündigte an, das Wrack nach Brüssel zu schicken, um es dort im Zentrum der EU-Zentrale als Mahnmal aufzustellen.
Das sei eine großartige Idee, die der UNHCR unterstütze, sagt Carlotta Sami im DW-Interview. Sie hat das Wrack auf Sizilien gesehen und war tief berührt: "Ich hatte das Gefühl, den Atem dieser Menschen zu spüren. Man spürte, dass da hunderte Menschen waren, die hofften und litten auf diesem Schiff." Es gehe nicht primär um politische Botschaften, sondern darum, Empathie zu wecken.
Nach dem Rücktritt Matteo Renzis hofft sie, dass die neue Regierung die Pläne fortführt. Wo man das Wrack ausstelle, sei gar nicht so wichtig, sagt Sami, wichtig sei nur, dass die Öffentlichkeit es sehen könne.
Die Flüchtlingskatastrophe im April 2015 ist kein Einzelfall, mahnt die UNHCR-Sprecherin. Die Lage habe sich nicht gebessert. Tausende besteigen in Ägypten oder Libyen überfüllte und ungeeignete Boote. In diesem Jahr sind schon mehr als 4700 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Das sind schon jetzt weit mehr als im gesamten Jahr 2015. Es sind mehr als 4700 Menschen mit Hoffnungen und einer eigenen Geschichte.