Schicht im Schacht
23. Dezember 2016"Glück auf!", ruft Heinz Spahn. "Na, alter Waschbär", grüßt der Wärter lachend aus einem der Ausstellungsräume zurück. Im Museum des Zeche Zollvereins in Essen kennt jeder den alten Bergmann, selbst ohne seine Kluft von damals, dem weißen Hemd und Halstuch. Spahn steht im Eingang des heutigen Ruhrmuseums zwischen lauten Schulkindern, die sich Schaukästen, Modelle und Filme anschauen. Sie sind teils gelangweilt, teils überrascht über die harte Arbeit und den straffen Arbeitsalltag der Bergarbeiter.
Zwischen ihnen einer, der alles miterlebt hat: Heinz Spahn, heute pensioniert, Zeitzeuge, Kumpel. Auch wenn man es ihm heute nicht mehr ansieht. Denn die Bergarbeiter-Kleidung hat der Rentner schon lange gegen Hemd, Pullover und dunkle Jacke getauscht. Er deutet auf die Freifläche neben der verglasten Rezeption. "Hier war mein Büro. Hier sind wir verabschiedet worden, am letzten Tag: 1986, am 23. Dezember", sagt Spahn ganz plötzlich. "Da kam so einer, sagte 'Wiedersehen'. Den kannte ich gar nicht." Er zuckt mit den Schultern und plötzlich bekommt er einen ernsten Gesichtsausdruck. "Tja, so war das."
Wie das so war, damals auf der Zeche, davon kann Heinz Spahn viel erzählen. Er ist resolut, möchte keinen Kaffee, sondern beginnt gleich zu erzählen, denn er erinnert sich gerne. Er wurde 1940 in Essen-Katernberg geboren, direkt neben der Zeche Zollverein. "Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder man fing auf der Zeche an oder beim Stahlbau", erklärt er. Kumpel oder Krupp? Er entscheidet sich für die Kohle, macht mit 14 eine Lehre zum Schmelzschweißer.
Zollvereiner in dritter Generation
1960 fängt er "auf Zollverein" an, erzählt Spahn im Ruhrpott-Dialekt, wie bereits sein Vater, Großvater und später seine zwei Söhne. 1851 von dem Industriellen Franz Haniel gegründet, ist die Zeche damals schon seit über 100 Jahren in Betrieb. Das Ruhrgebiet ist nach dem Zweiten Weltkrieg Wachstumsmotor: Allein die Zeche Zollverein fördert in den 1960ern fast zwei Millionen Tonnen Kohle jährlich. Die Kokerei veredelt täglich 10.000 Tonnen Steinkohle zu dem für die Stahlproduktion benötigten Koks.
Der damals 20-Jährige kommt in die Reparaturkolonne der Kohlenwäsche. Heute ist es das Besucherzentrum des rund 100 Hektar großen denkmalgeschützten Zechengeländes. Damals wird in dem klotzigen Bau direkt neben dem berühmten Förderturm die abgebaute Rohkohle gereinigt, bevor sie einige Kilometer weiter in der Kokerei zu der besser brennbaren Kokskohle umgewandelt werden kann.
Kohlenwäscher wie Heinz Spahn werden von den anderen Zechenkumpel spöttisch "Waschbären" genannt. Aber er ist stolz auf den Spitznamen und die Arbeit, zeigt auf die teils vom Rost zerfressenen Geräte: Setzmaschinen, Becherwerke, große Gebläse. Er schüttelt, selbst etwas ungläubig den Kopf: "Was hab ich hier geschwitzt."
Waschbären weinen nicht
Dass alle engagiert ihrer Arbeit nachgehen, hilft aber schon damals nicht: Ende der 1960er steigen die Preise auf dem Weltmarkt, die Nachfrage sinkt. Der Bund und das Land Nordrhein-Westfalen subventionieren den Bergbau. Die Zeche Zollverein fördert 1983 zwar rund drei Millionen Tonnen Steinkohle, muss aber nach und nach Schächte stilllegen. "Als wir davon erfahren haben, haben wir erstmal gelacht", erinnert sich Spahn. "Wir fördern doch jeden Tag so viel Kohle, bereiten sie auf und plötzlich soll hier Schluss sein?" Ja. Zu wenig Bedarf, zu wenig Gewinn: Nach 135 Jahren beendet der Besitzer Ruhrkohle AG den Betrieb.
"Ich war bis zum letzten Tag hier." Es ist einer der wenigen Momente auf diesem Streifzug, an dem er nicht Treppen steigt, sondern innehält. Nach 26 Jahren endet die letzte Schicht genau einen Tag vor Heiligabend: "Dann war hier der Deckel drauf." Die Kollegen von der Nachtschicht ungeduscht, er von der Frühschicht in sauberer Kluft, als sie verabschiedet werden. "Per Handschlag." Er klingt immer noch enttäuscht. "Das wars." Man habe sich eine Träne verdrückt, gesteht er, will sofort weitergehen. "Reden wir nicht weiter drüber."
Weihnachten war schön, erinnert sich Spahn an die Zeit danach. "Du warst mal nach all den Jahren beide Weihnachtstage zuhause bei der Familie." Feiertage gab es selten, oft musste der Stillstand im Betrieb für Reparaturen herhalten. "Der einzige Tag, den man wirklich frei machen konnte, war der 1. Mai."
Fremder Kumpel auf fremder Zeche
Bis zum Ruhestand hat der damals 46-Jährige noch knapp zehn Jahre. "Ich hab Glück gehabt." Spahn landet mit seinem Bruder nach der Schließung auf der Zeche Hugo in Gelsenkirchen-Buer, ganz in der Nähe. "Auf Hugo" fehlt ihm der Zusammenhalt. Andere Bezeichnungen für die Maschinen, das Gefühl "fremder Hahn auf fremden Mist" zu sein.
Mitte der 1990er Jahre befindet sich die Energiepolitik in Deutschland im Umbruch. Die Grünen ziehen als gesamtdeutsche Partei in den Bundestag, fordern ein Umdenken auf erneuerbare Energien. Die Stahlindustrie ist in der Krise, der Kohleverbrauch sinkt, Gas und Öl sind gefragt.
Er vermisst den Zollverein: "Wir waren hier wie eine große Familie", sagt er. In seiner freien Zeit zieht es Spahn zu der stillgelegten Zeche zurück: "Man kannte hier ein paar Schleichwege", gesteht er. Nach der Stilllegung wird die Zeche Zollverein unter Denkmalschutz gestellt. Die Gebäude werden eingerüstet, die Maschinen teils abgebaut, ganze Etagen entkernt. Spahn fährt manchmal mit dem Fahrrad vorbei: "Ich hab gedacht, verdammt noch mal, was machen die denn mit dem Zollverein."
Die wissen nicht, wie sich die Räder drehen
Der Zollverein wird 2001 zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt, umgebaut und dann kommt ein Museum. Viele der über 60 Gebäude werden neu verpachtet. Heinz Spahn freut sich, als 2010 der sogenannte Denkmalpfad eröffnet wird. Große Bilder von Bergleuten, Spazierwege mit Infotafeln zu der Arbeit auf der Zeche: "Aus dem Mauerblümchen wurde eine richtig schöne Blume", schwärmt er von seinen ersten Besuchen. "Ich bin rumgelaufen und hab den Leuten einfach was erklärt", strahlt Spahn. Das Museum fragt ihn daraufhin, ob er Führungen geben will.
Spahn nickt zufrieden, als er über die Entwicklung des Ruhrgebiets nachdenkt, räumt aber gleich ein: "Ich bin vom alten Schlag, ich schwärm immer von den alten Zeiten." Er steht auf dem Dach des Gebäudes in dem er früher gearbeitet hat und überblickt das Ruhrgebiet. In der Ferne sieht man einige Schornsteine rauchen. Jetzt sei die Sicht und die Luft klar, sagt er.
"Das Ruhrgebiet war eine Käseglocke", sagt er über die Luftverschmutzung von damals. "Wenn meine Mutter oder Großmutter Wäsche gewaschen haben, mussten sie gucken, wo der Wind herkam." Bei gutem Wetter wurde weiße Wäsche aufgehängt, bei schlechtem nur bunte Wäsche oder überhaupt keine. "Es war nicht schön hier zu wohnen, man hatte Probleme mit der Lunge", kritisiert Spahn, um gleich wieder zu beschwichtigen: "Wenn wir das schwarze Gold, die Kohle nicht gehabt hätten, dann wären wir nicht auf dem heutigen Level."
Heute nennt man Fortschritt im Ruhrgebiet "Strukturwandel": Die Zeche ist jetzt nicht nur Denkmal, sondern auch Naherholungsgebiet, Veranstaltungsort und Brutstätte für junge Unternehmen. Aber eben auch ein Stück zurückgewonnene Heimat Spahns und der alten Kumpel.
Der Bergbau geht, der Kumpel bleibt
Einige Meter weiter erinnert sich Spahn an das Zechenfest in den Innenhöfen im Herbst. Dort traf er alte Kumpel - statt Kohlezügen gab es Essensbuden, Karusells und Musikbühnen. Es hätte wieder "die alten Schnickschnacks" gegeben, freut sich Spahn und demonstriert den echten Ruhrpott-Dialekt: "Ey Kumpel, wie geht dich dat." Oder: "Waschbär, schmeckt dich das Bier nicht?" Und wieder schwelgt er in Erinnerungen. "Ein Schnaps half das Adrenalin runterzufahren." Man war füreinander da, denn "Kumpel heißt Kumpel". Für ihn war und ist das eine Lebenseinstellung: "Ich sag heute, der Bergbau geht, das Wort Kumpel bleibt."
Umso wichtiger ist es ihm, dass mit der Ernennung der Zeche zum Weltkulturerbe auch das Erbe seiner Kumpel gewahrt wird. "Das war keine Arbeit", sagt er ernüchtert. "Das war Maloche." Drehkolbengebläse dröhnten damals bei knapp 110 Dezibel, Ohrenschutz gab es anfangs nicht. Über die Unfälle will er erst nicht reden. Dann zeigt er auf sein Bein, eine Bandage zeichnet sich unter dem Hosenstoff ab. Drei Meter stürzte er damals in die Tiefe. "Das war 1966, da steht jetzt der Museumsshop."
Heutzutage erklimmt er wieder die Stufen der Metalltreppen und wandert die Brüstungen entlang, inspiziert die Maschinen, als sei er gerade mitten im Dienst. Dann dreht er sich um. "Da unten sind Leitungen, die hab ich geschweißt und ausgebessert", sagt er. "Ob Sie mir glauben oder nicht, ich hab Gänsehaut." Dass diese Schweißnähte, die Geräte und er als alter Bergmann noch ihre Geschichte erzählen dürfen, dafür ist er dankbar. Den Verantwortlichen, findet er, "denen sollte man ein Denkmal setzen."