Scharfe Kritik an Johnsons "Hate Speech"
26. September 2019Es war ein "Inferno der Rhetorik" - Speaker John Bercow nannte die Atmosphäre am Mittwochabend im Unterhaus "schlimmer als alles, was ich in meinen 22 Jahren hier erlebt habe". Die Leidenschaften seien entflammt, wütende Worte gefallen, das Klima vergiftet. Er habe noch in derselben Nacht Eingaben von zwei langjährigen Abgeordneten bekommen, die forderten, dringend über die Debattenkultur zu diskutieren.
Die Sau raus gelassen
Boris Johnson war nach seiner Niederlage vor dem Supreme Court offenbar voller Zorn von der UN-Vollversammlung in New York zurückgeflogen und hatte bei der ersten Sitzung des Parlamentes, nach der aufgehobenen Zwangspause, aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Das Gesetz zur Verhinderung eines harten Brexits, das ihm die Hände binden soll, nannte er durchweg nur das "Kapitulations-Gesetz" - als sei die EU eine Art Kriegsgegner.
Kein Wort der Entschuldigung über die unrechtmäßige Beurlaubung des Unterhauses – im Gegenteil. Boris Johnson beschimpfte die Opposition nach allen Regeln der Kunst, sprach von "Verrätern" und "Gegnern des Volkswillens". Die Einlassung einer Labour-Abgeordneten die ihn aufforderte, seine Sprache zu mäßigen, weil solche hemmungslosen Angriffe zu Todesdrohungen gegen Parlamentarier führten, tat er als "Humbug" ab.
Als er dann an die Abgeordnete Jo Cox erinnert wurde, die 2016 während der Referendums-Kampagne ermordet worden war, antwortete der Premier: Das Beste was man für sie tun könne sei, den Brexit umzusetzen. Dabei war Jo Cox eine glühende "Remainerin" und von einem Rechtsextremisten gerade wegen ihrer pro-europäischen Haltung umgebracht worden.
Ehemann und Schwester der Abgeordneten zeigten sich am Tag danach entsetzt und angewidert. Ziel der Ermordeten sei es immer gewesen, für gegenseitiges Verständnis zu werben. Die Hasstiraden im Unterhaus sorgten auch für harte Worte von Nicholas Soames, dem Enkel des Nationalhelden Winston Churchill. Soames war von Boris Johnson Anfang des Monats zusammen mit anderen Rebellen die Zugehörigkeit zur Tory-Partei entzogen worden. "Ich war total entsetzt über die Sprache und den Ton des Hauses", sagte er. Es sei Aufgabe des Regierungschefs, das Land zusammen zu führen. "Was Johnson gestern getan hat, war es weiter auseinander zu treiben", so Soames. "Ich wünschte, er würde anfangen, sich wie ein Premierminister zu benehmen".
Auch frühere Kabinettsmitglieder und gemäßigte Konservative mahnten, der Premier müsse gegen die vergiftete politische Kultur arbeiten und nicht sie anfachen. "Worte und Sprache sind wichtig", sagte etwa Stephen Crabb. Und auch innerhalb der Johnson-Familie gab es scharfe Kritik. Hatte Bruder Jo schon vor vier Wochen seinen Rücktritt aus dem Kabinett verkündet, nannte Schwester Rachel jetzt im Interview die Sprache von Boris Johnson "sehr geschmacklos" und "beschämend".
Die Liberalen-Vorsitzende Jo Swinson musste am Donnerstag wegen Drohungen gegen ihre Kinder die Polizei einschalten. Die Labour-Abgeordnete Jess Philipps berichtete von Beschimpfungen durch einen gewaltsamen Eindringling in ihrem Wahlkreis-Büro und Kulturministerin Nicki Morgan erhielt in der vergangenen Nacht ebenfalls Todesdrohungen. Viele Parlamentarier fürchten tatsächlich um Leib und Leben.
Das Tischtuch mit der Opposition zerschnitten
Aber die vergiftende Sprache von Boris Johnson hat noch weitere Folgen. Der Labour-Abgeordnete Stephen Kinnock, der zu einer Gruppe gehört, die im Prinzip bereit wären, für einen Brexit-Deal mit der Regierung zu stimmen, kritisierte:"Wir können nicht eine Politik verfolgen, die die verlorene Kunst des Kompromisses zum Ziel hat, wenn Leute eine dermaßen entflammende und aufwiegelnde Sprache benutzen".
Mit seinen maßlosen Attacken hat Johnson eine solche Vereinbarung mit der Opposition derzeit quasi unmöglich gemacht. Da er keine Mehrheit im Parlament hat und einige der Brexit-Hardliner in den eigenen Reihen noch gegen jede Art von Deal stimmen dürften, würde er vielleicht zwei Dutzend Stimmen aus der Labour–Party und von Unabhängigen brauchen, um ein Austrittsabkommen überhaupt durchzubringen.
Sind die viel beschworenen Verhandlungen mit Brüssel also tatsächlich nur ein Vorwand, wie manche von Anfang an mutmaßten? Steuert Boris Johnson in Wahrheit auf einen No-Deal-Austritt zu? Jedenfalls gibt er mit dieser Strategie der EU keinen Anreiz, ihm mit Zugeständnissen entgegen zu kommen. Die Chance ist zu hoch, dass sie in den internen Machtkämpfen und im Chaos der britischen Politik verschwendet wären und aufgerieben würden.
Die Rache der Opposition aber für die Breitseiten des Regierungschefs ließ nicht auf sich warten. Sie verweigerte am Donnerstag die traditionell übliche kurze Sitzungspause für die Parteikonferenz der Tories in der nächsten Woche. Die Abgeordneten werden also für Abstimmungen zwischen Manchester und London pendeln müssen. Diese weitere Niederlage für Johnson zeigt das ganze Ausmaß des vergifteten Umgangs im Unterhaus. Er selbst wird gezwungen, Mittwochmittag zur traditionellen Fragestunde anzutreten, so dass er seine Parteitagsrede verschieben muss.
Wie weiter?
Die Wut des Premiers hatte sich auch an der Tatsache entzündet, dass die Opposition es ihm am Mittwoch erneut verweigerte, Neuwahlen auszurufen. "Erklärt mit doch das Misstrauen", hatte Johnson sie herausgefordert. Aber die Reihen auf der Gegenseite standen fest. Labour und andere wollen Neuwahlen erst dann zulassen, wenn die Regierung die EU um eine Brexit-Verlängerung über den 31. Oktober hinaus gebeten hat, um einen No-Deal auszuschließen.
"Wir trauen dem Premier nicht", hieß es aus den Reihen der Opposition. Trotz des Gesetzes, das ihn dazu verpflichtet, könnte er sich herauswinden oder es missachten. Jetzt denken die Abgeordneten über eine Verschärfung des Gesetzes nach, das sie in der nächsten Woche beschließen könnten, um Boris politisch noch stärker an die Kette zu legen. Die Intervention des Supreme Court hat dem Parlament jedenfalls die Sitzungszeit zugestanden, die es benötigt, um Johnsons harten Kurs weiter zu konterkarieren. Das Spiel ist noch nicht zu Ende, es gibt noch vier Wochen Zeit, um dem Premier das Leben schwer zu machen.
Mahnungen zur Sprache in der politischen Auseinandersetzung in Großbritannien kamen übrigens auch aus Brüssel. Der britische EU-Kommissar Julian King erklärte sie für "grob und gefährlich. Wer glaube, extreme Sprache würde nicht politische Gewalt quer durch Europa hervorrufen, der hat nicht aufgepasst". Und Kommissionsprecherin Mina Andreeva mahnte: "Respekt ist ein fundamentaler Wert in allen Demokratien. Es ist die Verantwortung jedes Politikers, diese Werte zu wahren. Die Geschichte hat uns gezeigt, was passiert, wenn das nicht geschieht."