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Saudi-Arabien: Neom - kein Prestigeobjekt der Menschenrechte

18. Mai 2023

Der Bau der "grünen" Mega-Stadt Neom hat begonnen. Sie soll Saudi-Arabiens Zukunft sichern, wenn das Öl nicht mehr sprudelt. Bürgern, die sich nicht fügen, drohen laut Menschenrechtlern harte Strafen, bis hin zum Tode.

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Werbung für Neom auf einer Ausstellung in Riad, November 2022
Werbung für Neom auf einer Ausstellung in Riad, November 2022Bild: Balkis Press/ABACA/picture alliance

Sie wollten ihre Dörfer nicht verlassen, die dem Bau der geplanten Zukunftsstadt Neom weichen sollen. Darum sehen sich drei junge Männer vom Stamm der Howeitat laut Angaben von Menschenrechtlern und den UN von der Todesstrafe bedroht. Diese hatte ein Gericht laut den Angaben bereits im August vergangenen Jahres gegen sie verfügt. Im Januar dieses Jahres wurde das Urteil von einem Berufungsgericht bestätigt, vollstreckt wurde es offenkundig noch nicht. 

Das Vergehen der Männer: Sie hatten versucht, den Abriss ihrer Häuser zu verhindern. Drei weitere Mitglieder des Stammes wurden zu Haftstrafen zwischen 27 und 50 Jahren verurteilt.

Einem Bericht des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte zufolge treiben die saudischen Behörden die Maßnahmen zum Bau der Smart City rigoros voran. So ergriffen sie seit Januar 2020 Maßnahmen, um Angehörige des Stammes der Howeitat aus dreien ihrer Dörfer - Al Khuraiba, Sharma und Gayal - zu vertreiben. Diese stehen dort, wo irgendwann die Lichter der künftigen Smart City leuchten sollen. Neom ist ein ökologisches Prestigeobjekt Saudi-Arabiens , das helfen soll, das absehbare Ende der Erdölförderung und den Einstieg in die erneuerbaren Energien und grüne Techniken zu bewerkstelligen.

Eine Projektion zeigt den Hafen der geplanten Zukunftsstadt Neom
Visionen einer Zukunftsstadt: Ausstellung über das Projekt Neom in Riad, November 2022Bild: Eliot Blondet/ABACA/picture alliance

Urteile auf fragwürdiger Grundlage

Zwar hat die saudische Regierung den von den Auswirkungen betroffenen Menschen versprochen, sie in die Planungs- und Umsetzungsprozesse einzubeziehen. Doch UN-Angaben zufolge wurden offenbar dennoch viele Menschen vertrieben, Häuser ohne angemessene Entschädigung abgerissen. Während der anfänglichen Proteste sei ein Mitglied des Stammes sogar in seinem eigenen Haus von Mitgliedern saudischer Spezialeinheiten getötet worden, heißt es in dem UN-Bericht.

"Alle sechs Personen wurden auf der Grundlage des äußerst vagen saudischen Gesetzes von 2017 über die Bekämpfung von terroristischen Straftaten und deren Finanzierung angeklagt", monieren die UN-Experten. Sie wiesen in ihrem Bericht zudem darauf hin, dass dieses Gesetz ihrer Einschätzung nach nicht mit dem Völkerrecht in Einklang steht. Außerdem äußerten sie ihre Besorgnis, dass einige der Inhaftierten möglicherweise gefoltert und misshandelt wurden, um Schuldgeständnisse zu erzwingen.  Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International spricht in ihrem Bericht für das Jahr 2022 von "grob unfairen Verfahren". Anfragen der DW an offizielle saudische Stellen mit Bitte um Stellungnahme blieben bis zur Veröffentlichung dieses Artikels unbeantwortet.

Neom ist nicht der einzige Ort, an dem Menschen gewaltsam vertrieben werden. Von Januar bis Oktober 2022 ließen die Behörden offenbar auch in der Hafenstadt Dschidda viele Häuser abreißen, um Stadtentwicklungspläne umzusetzen. Dabei wurden Tausende Menschen Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen, darunter auch ausländische Staatsangehörige, berichtet Amnesty International.

Projektion eines 160 km langen Wolkenkratzers in Neom
160 Kilometer in der Breite: So lang soll ein Wolkenkratzer in Neom werden. Die genaue Höhe ist nicht überliefert, im direkten Vergleich wirkt sie eher bescheidenBild: NEOM

Bittere Realität jenseits der Hochglanzbroschüren

Neom verkörpere die Kluft zwischen der Vision des mächtigen Kronprinzen Mohammed bin Salman für ein neues Saudi-Arabiens und der repressiven Realität seiner Herrschaft, sagt Jeed Basyouni, die bei der Menschenrechtsorganisation Reprieve für Nahost und Nordafrika zuständig ist. "Was die Hochglanzbroschüren nicht zeigen ist, dass dies eine Stadt ist, die auf Zwangsräumungen, staatlicher Gewalt und Todesurteilen aufgebaut ist", kritisiert Basyouni im Gespräch mit der DW.

Ähnlich sieht es die im Exil lebende Aktivistin Lina al-Hathloul von der Organisation ALQST, die auf die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien spezialisiert ist. "Die Prozesse werden hinter verschlossenen Türen geführt", beklagt sie. Um das Projekt voranzutreiben, sei die Justiz sogar bereit, Menschen hinzurichten, so al-Hathloul im DW-Interview. Auch sie betont, die Betroffenen seien nur verurteilt worden, weil sie sich geweigert hätten, unter den gegebenen Bedingungen ihre Häuser für das Neom-Projekt zu räumen.

Die Bauarbeiten an Neom hätten zwar inzwischen in Form von ersten Infrastrukturmaßnahmen begonnen, sagt der deutsche Saudi-Arabien-Experte Sebastian Sons von dem Bonner Think Tank Carpo. Insgesamt aber stehe das Projekt noch sehr am Anfang. Viele internationale Berater seien jedoch bereits für den saudischen Staat tätig, zudem gebe es seinen Informationen zufolge bereits direkte Flugverbindungen von Neom nach London oder nach New York. "Die Ambitionen sind also ersichtlich: Man möchte Neom tatsächlich realisieren."

Mehr als nur ein Prestigeobjekt

Das harte Vorgehen der saudischen Justiz könnte auf den Umstand zurückgehen, dass der Bau von Neom für den2022 zum Premierminister ernannten Kronprinzen Mohammed bin Salman (auch MbS genannt) mehr ist als bloß ein Prestigeprojekt. Die Stadt soll helfen, den Wohlstand des Landes auch für die Zukunft zu sichern, wenn der bisherige Ölreichtum eines Tages weitgehend versiegt sein wird. Biotechnologie, erneuerbare Energien und Medien sind zentrale Bausteine der Zukunftswirtschaft. So will das Land laut eigenem Bekunden auch seinen Teil dazu beitragen, die großen globalen Herausforderungen der Menschheit zu lösen.

Neom stehe symbolisch für Mohammed bin Salmans Plan, das Land in eine neue Moderne zu führen, so Experte Sebastian Sons. Da es zudem auch internationale Strahlkraft habe, gebe es enormen Druck, Neom auch so zeitnah wie möglich umzusetzen. "Das Projekt ist zentraler Bestandteil der politischen Strategie des Kronprinzen. Sollte er damit scheitern, dürfte das erheblich dem Vertrauen schaden, das er in weiten Teilen der Bevölkerung genießt", analysiert Sons. Zudem würde ein Scheitern auch dem Ansehen des internationalen Investitionsstandorts Saudi-Arabien schaden.

Blick auf einen Hinrichtungsplatz in Riad, 2006
Ort des Todes: Blick auf einen Hinrichtungsplatz in Riad, 2006Bild: PA/dpa

Freilassung gefordert

Die zum Tode oder langen Haftstrafen verurteilten Angehörigen des Howeita-Stammes seien nicht die einzigen, die unter dem Mega-Projekt zu leiden hätten, sagt Aktivistin Lina al-Hathloul. "Es gibt viele Stämme, die gewaltsam vertrieben und strafrechtlich verfolgt wurden." Rund 50 Personen seien bislang nach den ihr vorliegenden Informationen verhaftet und strafrechtlich verfolgt worden. Für Neom hat sie nur negative Worte übrig: Das Projekt sei der Bevölkerung "aufgezwungen" worden, sagt sie und nennt Neom "ein Projekt der Diktatur".

Die Menschenrechtlerin fordert die Aufhebung der Todesurteile sowie die Freilassung aller Verhafteten. Auch müssten diejenigen, die gewaltsam vertrieben worden seien, entschädigt werden. Notwendig sei ein klares Verfahren zur Konsultation der Einheimischen. "Unsere vorrangige Priorität ist jetzt aber natürlich die Rettung der Menschen, die in der Todeszelle sitzen, und die Freilassung derjenigen, die verfolgt wurden, weil sie sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen."

Blick auf die Wüstenlandschaft, auf der Neom entstehen soll
Bislang kaum besiedelt: das Land, auf dem Neom entstehen sollBild: NEOM

Auch deutsche Unternehmen in der Pflicht?

Doch ist dies ein realistischer Ansatz? Auf internationaler Ebene gebe es durchaus Möglichkeiten, auf den Kurs der saudischen Menschenrechtspolitik einzuwirken, meint Experte Sebastian Sons. So habe internationaler Druck in der Vergangenheit in einigen Fällen immerhin dazu geführt, dass Exekutionen ausgesetzt wurden oder dass Menschenrechtsaktivisten und -aktivistinnen aus der Haft entlassen wurden - wenngleich sie weiterhin unter rigider Überwachung und Reiseverboten stünden. "Je höher der Druck wird auf die saudische Regierung, hier tatsächlich etwas zu tun, desto eher könnte sie bereit sein, eine konziliante, gesichtswahrende Lösung zu finden."

Die Lage der Menschenrechte im saudischen Königreich hat diese Woche auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock während ihrer Reise an den Golf angesprochen. Wirtschaftliche Kooperation könne nicht "losgelöst von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Freiheitsrechten betrachtet werden", erklärte sie im Gespräch mit dem saudischen Außenminister Prinz Faisal bin Farhan.

Tatsächlich sei es auch im deutschen Interesse, dass im Zusammenhang mit dem international angelegten Projekt Neom bestimmte zivile Standards eingehalten würden, meint Sons. "Einfach deshalb, weil mögliche Menschenrechtsverletzungen nicht allein auf das Königreich, sondern auch auf beteiligte deutsche Unternehmen zurückfallen könnten".

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Jennifer Holleis
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.
DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika