"Sardinen": Antipopulismus mit Zukunft?
19. Dezember 2019Dichtgedrängt stehen Menschen auf Plätzen italienischer Städte, viele halten selbstgebastelte Pappschilder in Sardinenform: Seit einem Monat gehen solche Bilder um die Welt. Die Protestaktionen begannen Mitte November mit einem Flashmob in Bologna, zu dem der 32-jährige Sportlehrer und Energieberater Mattia Santori und drei seiner Freunde per Facebook aufgerufen hatten. Santori hat inzwischen so etwas wie die Rolle des "Sardinen"-Sprechers übernommen. Ihr Ziel: Mehr Menschen zu mobilisieren als der Ex-Innenminister und Chef der rechten Lega-Partei, Matteo Salvini, der die Stadt im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung besuchte. So viele Menschen sollten auf den zentralen Platz kommen, dass sie dicht an dicht stehen müssten - wie Sardinen in einer Dose.
Und tatsächlich: Rund 15.000 Menschen folgten dem Aufruf. Ähnliche Demonstrationen haben seither in zahlreichen italienischen Städten stattgefunden. Am vergangenen Wochenende füllten nach Angaben der Veranstalter rund 100.000 "Sardinen" in Rom die Piazza San Giovanni, auf der traditionell Kundgebungen von linken Gruppierungen und Gewerkschaften stattfinden. Auch außerhalb des Landes demonstrierten am Samstag Italiener - etwa in Paris und Dresden.
Zurück zum Anstand
Über die Teilnehmer der Proteste ist wenig bekannt. Auf vielen Fotos sind Menschen unterschiedlichen Alters zu sehen. Klarer ist ihre Botschaft: Die "Sardinen" wollten "zurück zu einem Anstand, einem neuen Stil der Politik, ohne dass dies direkt einen bestimmten Inhalt nach sich zieht", sagt Christian Blasberg, Historiker an der römischen Universität Luiss, der unter anderem zur Geschichte politischer Bewegungen in Europa forscht. Die "Sardinen"-Bewegung habe genug von "harschen und sehr spitzen Tönen im politischen Diskurs, davon, dass die Politik so extrem polarisiert wird". Auf ihrer Facebook-Seite, der bereits knapp 270.000 Menschen folgen, heißt es etwa: "Wir verlangen, dass Gewalt in all ihren Formen aus der politischen Sprache und aus politischen Inhalten verschwindet."
Dass die "Sardinen" so zahlreich auf die Straße gehen, überrascht Blasberg nicht. Zum einen fände in Italien seit vielen Jahren alles, was "irgendwie gegen etablierte Formen oder Akteure der Politik gerichtet ist", großen Anklang - und Salvini sei trotz seiner umstrittenen populistischen Rhetorik durch sein ehemaliges Ministeramt Teil ebendieser etablierten Politik.
Zum anderen, so vermutet Blasberg, profitierten die "Sardinen" vom Niedergang der Fünf-Sterne-Bewegung. Die 2009 aus einer Protestbewegung um den Kabarettisten Beppe Grillo entstandene linkspopulistische Partei hatte sich ursprünglich als Alternative zum politischen Establishment inszeniert. 2018 ging sie mit der rechten Lega eine Regierungskoalition ein, seit diesem September regiert sie Italien mit gemeinsam mit der sozialdemokratischen Partito Democratico (PD). Bei der jüngsten Regionalwahl kamen die Cinque Stelle, die Fünf Sterne, nur noch auf 7,4 Prozent. Ein großer Teil enttäuschter Wähler dürfte die "Sardinen"-Bewegung als "Wiedergeburt der eigenen Ideen wahrnehmen", so Blasberg - eine Bewegung, "die allerdings weitaus weniger organisiert daherkommt, als die Fünf Sterne es seinerzeit waren."
Lob von Sozialdemokraten und Fünf Sternen
In der fehlenden Organisationsstruktur der "Sardinen", von denen 150 in Rom eine Strategie erarbeitet haben, sieht der Historiker eine der größten Herausforderungen der Bewegung. Dass sie kein inhaltliches Programm vorzuweisen habe, könne "über einige Zeit gut gehen, solange sich diese Bewegung nicht instrumentalisieren lässt". Aber: "Sobald man merkt, dass irgendeine Partei oder eine Bewegung dahinter steht - und gerade die Fünf Sterne hätten ein Interesse, auf diesen Zug aufzuspringen -, wird sie vermutlich im allgemeinen politischen Alltag versanden und ihre Botschaft wird keinen weiteren Nachhall haben."
Die "Sardinen" hätten bereits den Fehler gemacht, sich einerseits als breite gesellschaftliche Initiative darzustellen und gleichzeitig mit "linker Symbolik" zu arbeiten, etwa dem Singen des antifaschistischen Partisanen-Lieds "Bella Ciao", findet Blasberg. "Wir stehen zuallererst einmal hinter der italienischen Verfassung", sagte "Sardinen"-Sprecher Santori jüngst dem Sender ntv. "Die Gleichheit der Menschen, die Unterschiede der Menschen zu respektieren, das Recht, eine Idee zu vertreten, ohne deswegen gleich Andersdenke zu Feinden zu erklären - diese Ideen findet man vor allem bei den Linken. Ich würde deswegen sagen, unsere Position ist deswegen eher links."
Tatsächlich haben sich sowohl die sozialdemokratische PD als auch die Fünf Sterne bereits positiv über die Sardinen geäußert. "Schöne Vorschläge, die Sie eingereicht haben. Wir werden alles tun, um sie umzusetzen und Ihrem Engagement gerecht zu werden", schrieb etwa PD-Chef Nicola Zingaretti am vergangenen Samstag auf Facebook. Außenminister Luigi Di Maio von den Fünf Sternen schloss eine mögliche zukünftige Zusammenarbeit nicht aus.
Dass die Bewegung Salvini im Regionalwahlkampf der kommenden Monate gefährlich werden könnte, hält Blasberg für unwahrscheinlich. Dafür habe der Ex-Innenminister eine zu "kompakte Anhängerschaft, die sich über längere Zeit herausgebildet hat und die sich vermutlich von dieser Bewegung nicht irritieren lässt". Derzeit führt die Lega in den Umfragen mit Abstand. Im Oktober gewann sie die Regionalwahl in Umbrien, im Januar wird in der traditionell linken Region Emilia-Romagna gewählt.
"Ein sympathischer Fisch"
Donatella della Porta, Leiterin des Zentrums für Forschung über soziale Bewegungen in Florenz, tut sich mit Prognosen zur Zukunft der "Sardinen" schwer: "Eine Bewegung, die von vier Leuten ausgegangen ist, ist nicht nur instrumentalisierbar. Ihre Inhalte und Ziele sind in Bewegung." Santori etwa sei zwar sichtbar, repräsentiere aber nicht alle "Sardinen". Die kommenden Tage und Wochen müssten zeigen, ob sie sich mit anderen Strömungen zusammenschlössen, etwa mit der ökologischen oder der feministischen, und welche Rolle Themen wie soziale Gerechtigkeit und der Klimawandel spielten.
Entscheidend sei jedoch nicht, wie lange die Proteste andauerten, sondern was sie in der Bevölkerung katalysierten. "Es ist schwer zu sagen, ob es die Sardinen in einem Jahr noch gegen wird. Aber ich glaube, dass die Bewegung wichtig ist, weil sie die Aufmerksamkeit auf die Straßenpolitik lenkt und darauf, was die Lega und Salvini bedeuten" - etwa, dass Salvini Rassismus normalisiere, so della Porta.
Mit der Wahl der Sardine als Symbol hätten sie jedenfalls die richtige Entscheidung getroffen, ist die Politikwissenschaftlerin überzeugt. Auf dem Weihnachtsmarkt in Florenz gebe es dieses Jahr allerlei in Sardinenform zu kaufen, etwa Schmuck. "Es ist ein sympathischer Fisch, kein Hai", sagt della Porta. "Das Symbol funktioniert - für wie lange, ist schwer zu sagen. Eine Sardinenpartei würde komisch klingen."
In welche Richtung auch immer sich die Bewegung entwickelt - die Aktionen gegen rechten Populismus gehen einstweilen weiter. Ob in Großstädten oder kleineren Kommunen wie Biella, Cremona und Monselice.