Der Attentäter von Sarajevo
31. Januar 2014Je näher das 100-jährige Gedenkjahr des Attentats von Sarajevo rückt, desto leidenschaftlicher lodern in Bosnien und Herzegowina die nationalistischen Gefühle wieder auf. In dem Land, das immer noch an den Lasten des Krieges von 1992 bis 1995 zu tragen hat, stehen sich Bosniaken, wie man hier die bosnisch-herzegowinischen Muslime nennt, bosnische Serben und bosnische Kroaten misstrauisch, wenn nicht gar feindselig gegenüber.
Zu unterschiedlich interpretiert die jeweilige Seite das Attentat vom 28. Juni 1914 auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo. Die tödlichen Schüsse des serbischen Attentäters Gavrilo Princip gelten als der Auslöser für den Ausbruch des ersten Weltkrieges, und gerade deshalb sind sie für das Selbstverständnis von Serben, Kroaten oder Bosniaken von großer Bedeutung.
"Die Meinungen über Princip gehen weit auseinander", sagt eine Passantin in Mostar. Sie gehe davon aus, dass Princip, ob bewusst oder unbewusst, für die serbischen Interessen gearbeitet habe. "Bewaffnet wurde er von der 'Schwarzen Hand', einem Geheimbund der großserbischen Nationalisten, die Befehle erhielt er vom serbischen Geheimdienst. Am Ende hat er neben dem Thronfolger auch noch dessen schwangere Frau erschossen. In meinen Augen ist das ein terroristischer Akt."
Unterschiedliche Interessen - unterschiedliche Interpretationen
Ein knappes Jahrhundert nach dem Attentat versuchen vor allem die nationalistischen Führer in Bosnien, für sich politisches Kapital aus der Debatte über die Rolle des Attentäters zu schlagen. Denn im Herbst 2014 stehen Wahlen an, und da kommt das Gedenkjahr gerade Recht, um die eigenen politischen Positionen zu stärken. Serbische Politiker kündigen an, für Gavrilo Princip sowohl in Belgrad, als auch im überwiegend von Serben bewohnten Ost-Sarajevo ein Denkmal errichten zu wollen.
Die bosniakische Politiker dagegen, gedenken, dem ermordeten Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo ein Denkmal zu setzen. Beide Seiten berufen sich auf die Geschichte, allerdings meist nur einseitig und selektiv. "Da die herrschende Elite Bosniens unfähig ist, die hoffnungslose gegenwärtige wirtschaftliche und politische Lage ihrer Bürger zu verbessern, wetteifern sie darum, wenigstens die gemeinsame Geschichte zu ändern." Das Attentat sei nur eine der zahlreichen Verdrehungen und Manipulationen der Geschichte Bosniens, mit der sich die herrschende nationalistische Oligarchie legitimiere, so die Interpretation des Sarajevoer Journalisten Senad Pećanin.
"Jene, die die Ottomanische Herrschaft verherrlichen, sehen in Gavrilo Princip den direkten Vorläufer von Radovan Karadžić und Ratko Mladić. Die anderen, die auf den tragischen Idealismus des Attentäters verweisen, übersehen, dass die 'Schwarze Hand' ein Instrument der Durchsetzung serbischer Hegemonie war." Im Streit der beiden Seiten werde Gavrilo Princip erneut zu einem Opfer - und mit ihm auch die Möglichkeit einer nüchternen Betrachtung der historischen Fakten, so Pećanin.
Unklare Rolle der "Schwarzen Hand"
Auch wenn es mutmaßlich keine Beweise dafür gibt, dass die "Schwarze Hand" direkt mit der serbischen Regierung verbunden war - bekannt ist, dass die Organisation von Persönlichkeiten geleitet wurde, die zur serbischen Machtelite zählten. Ihr Chef war der einflussreiche serbische Geheimdienstler Dragutin Dimitrijević, genannt Apis, von dem die Verschwörer von Sarajevo ihre Waffen erhielten. Der Professor der philosophischen Fakultät in Sarajevo, Edin Radušić, betont: "Die ‚Schwarze Hand' war eine serbisch-nationalistische und angesichts ihrer Gewaltakte auch eine terroristische Organisation. Die ‚Schwarze Hand' trug einen Jugoslawismus vor sich her, der vor allem serbische Dominanz bedeutete", sagt Radušić.
Die Umschreibung der Geschichte
Der bosnische Historiker Tomislav Išek widerspricht: "Bestimmte Kreise nutzen die Gelegenheit, um die historische Verantwortung für den Weltkrieg auf eine Seite zu schieben. Dabei war das Attentat nur der Anlass für einen Krieg, der ohnedies gekommen wäre. Die serbische Regierung unter Nikola Pašić war absolut gegen einen Kriegsausbruch", sagt Išek.
Wie unterschiedlich die Blickwinkel auf das Attentat von Sarajevo sind, zeigt ein Blick auf die Internetportale der verschiedenen Seiten: So behauptet der Gründer und Redakteur des Internetportals 'neznase' (man weiß es nicht) Emil Karamatić gegenüber der Deutschen Welle: "Die Geschichte über die Errichtung eines Denkmals für Franz Ferdinand ist doch nur die primitive Antwort auf die dumme Geschichte eines Denkmals für Gavrilo Princip."
Und der Chefredakteur der Seite 'buka' (Aufruhr), Aleksander Trifunović, erinnert daran, dass man in Bosnien die Menschen nur über die Emotionen erreiche und dafür werde jede Gelegenheit genutzt. So sei es auch im Umgang mit dem Thema Princip. "Das dauernde umschreiben der Geschichte zeigt, wie unterentwickelt unsere Gesellschaft ist. Die Geschichte, die ich einst gelernt habe, in dem Land, in dem ich aufgewachsen bin, Jugoslawien, feierte Princip als Helden, der sich für den Jugoslawismus einsetzte und gegen die Besatzer kämpfte. Ich denke, dass diese Sichtweise vollkommen richtig ist", sagt Trifunović.
Serbien feiert Princip als Helden
In Serbien gibt es keinen Streit darüber, wer Princip war. Der Gründer und Redakteur des Belgrader Internetportals 'kolumnista', Aleksandar Bečić, betont die einhellige Ansicht der Rolle von Princip in der serbischen Öffentlichkeit. "Niemand nimmt Princip als Terroristen wahr, sondern als einen Helden, der den Freiheitsgedanken in sich trug und dafür kämpfte", so Bečić gegenüber der Deutschen Welle.
In Bosnien und Herzegowina hingegen polarisieren die unterschiedlichen Auffassungen über die Rolle Gavrilo Principes, aber auch die über die österreichisch-ungarische Herrschaft im Land weiterhin - fast genauso wie im Jahre 1914. Dementsprechend beschreibt der berühmte Historiker Vladimir Dedijer in seinem Buch "Sarajevo 1914" eine Begebenheit, wonach der Vater des Mitverschwörers von Sarajevo, des Serben Nedeljko Ćabrinović, mit dem eigenen Sohn in Streit geriet: Der Vater hatte auf seinem Haus die österreichisch-ungarische Fahne gehisst - zu Ehren des Besuchs des Thronfolgers Franz Ferdinand.