Safia S.: "Märtyrerin" made in Germany
20. Oktober 2016Ihr Messerangriff am Bahnhof in Hannover soll die erste vom IS in Deutschland in Auftrag gegebene Terrortat gewesen sein. Da sind sich die zuständigen Behörden sicher. Safia S. wird von dem Generalbundesanwalt angeklagt - wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Ihr drohen bis zu zehn Jahren Haft.
Aufnahmen der Videoüberwachung im Bahnhof Hannover zeigen, dass Safia S. die beiden Beamten lange mit starrem Blick verfolgt. Weil sie sich verdächtig verhält, wollen die beiden Beamten ihren Ausweis sehen. Da sticht sie zu.
Schon während der laufenden Ermittlungen stellt sich heraus: Die Messerattacke in Hannover war für Safia S. der Schlusspunkt einen langen islamistischen Radikalisierung. Die Durchsuchung ihres Handys offenbarte den Weg dahin: Ermittler fanden dort Chatprotokolle zwischen Safia S. und Mitgliedern des sogenannten "Islamischen Staats" (IS).
"Allah segne unsere Löwen"
Nach Recherchen des Magazins "Panorama 3" des Norddeutschen Rundfunks schrieb Safia S. offenbar in einem Chat am 14. November 2015, einen Tag nach den Terrorakten in Paris: "Gestern war mein Lieblingstag, Allah segne unsere Löwen, die gestern in Paris im Einsatz waren." Während der Ermittlungen kommt immer wieder die Frage auf: Wie konnte sich das junge Mädchen so radikalisieren?
Die Deutsch-Marokkanerin trägt Kopftuch. Im Internet präsentiert sich die Gymnasiastin wie unzählige Altersgenossinnen: Selfies vor dem Kleiderschrankspiegel, Fotos mit Freundinnen, Bilder von Katzen. Sie schwärmt für Justin Biber und Allah. "Ein Mädchen, das aus dem Koran zitiert, ist ja keine Bedrohung", sagt ihr Vater in einem NDR-Interview. Er beschreibt sie als liebes, unscheinbares Kind.
Strenggläubige Erziehung durch die Mutter
Safia S. ist in Hannover aufgewachsen. Ihr Vater ist Deutscher, der zum Islam konvertiert ist. Ihre Mutter stammt aus Marokko und gilt als strenggläubig. Die Ehe scheiterte. Safia blieb zusammen mit ihren beiden Brüdern bei der Mutter. Die ging mit den Kindern in die Moschee des Deutschsprachigen Islamkreises in Hannover. Die Einrichtung wird seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet. Safia S. ging regelmäßig freitags in die Moschee und lernte den Koran auswendig. Doch dort traf das Kind auf Männer, die sie gefährlich manipulierten.
Unterschätzten die Behörden die Gefahr?
Bereits 2008, im Alter von sieben Jahren, ist Safia S. in einem Youtube-Video zu sehen, an der Seite des heftig umstrittenen Salafisten-Predigers Pierre Vogel. Mit zarter Stimme rezitiert sie Koranverse. In den Propagandavideos der salafistischen Szene nennt Vogel sie "unsere kleine Schwester im Islam" und präsentiert sie seinen Anhängern: "Das hier ist die neue muslimische Generation, ich bin stolz auf dich. Lerne den Koran auswendig, denn am jüngsten Tag wirst du für jeden Vers eine Stufe höher steigen."
Nach dem Stand der Ermittlungen ist klar: Schon vor der Messerattacke hatten die niedersächsischen Behörden Kenntnis von Videos wie diesem. Sogar der Staatsschutz ermittelte im November 2014 gegen das Mädchen wegen Vorbereitung einer schweren Straftat.
Safia S. soll auch Kontakt zu dem Deutsch-Syrer Mohamad Hasan K. (20) gehabt haben. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen ihn, da K. bei den angeblichen Terrorplänen involviert gewesen sein soll, die im November 2015 zur Absage des Fußball-Länderspiels in Hannover führten. Im Fall Safia S. ist er als Mitwisser mitangeklagt. K. konnte zwar fliehen, wurde aber Ende September in Griechenland festgenommen.
Warum kam es zu der Messerattacke?
Safias Radikalisierung blieb der Familie nicht verborgen. Sogar ihre Großmutter informierte die Polizei. Mitte Dezember nahmen die Beamten Kontakt auf, Mitte Januar kam es zu einem Treffen. Safias radikales Gedankengut offenbarte sich schließlich durch ihre Ausreise am 22. Januar. Sie flog Richtung Istanbul. Ihr Ziel: der IS in Syrien.
Wenige Wochen zuvor war bereits ihr Bruder ausgereist. Doch türkische Behörden fassten ihn an der Grenze zu Syrien. Der damals 18-Jährige landete in Haft. Nach seiner Rückkehr nach Hannover erfolgte die Einweisung in die Psychiatrie.
Nach der Ausreise meldete Safias Mutter ihre Tochter den Behörden als vermisst. Selber reiste sie ihrer Tochter nach. Im Februar kommen Mutter und Tochter zurück nach Deutschland. Am Flughafen Hannover wartete die Polizei auf sie. Die Fahnder beschlagnahmten ihr Handy. Die auf Arabisch verfassen Chatprotokolle konnten nur mühsam übersetzt werden.
Erster IS-Terroranschlag in Deutschland
Laut Bundesanwaltschaft nahm der Teenager in Istanbul Kontakt mit IS-Mitgliedern auf und brachte den Auftrag des IS mit, eine "Märtyrer-Tat" zu verüben. Auch habe sie über einen Internet-Nachrichtendienst ein Bekennervideo übermittelt. Erst Anfang März entdecken sie die Anweisung des IS zu der Messerattacke. Zu spät.
Die Beamten kommen zu spät - trotz aller Hinweise aus ihrem Umfeld
Im laufenden Ermittlungsverfahren werden immer mehr Pannen deutlich, mittlerweile beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss des Landtags in Hannover mit dem Fall. Hätten die Behörden mit Safias Festnahme Anfang Februar die drohende Gefahr abwenden können?
Auch ein Lehrer und die Schulleitung meldeten sich nach ihrer Festnahme am Flughafen bei den Behörden. Am Tag der Messerattacke suchte die Polizei dort das Gespräch. Doch Safia nahm nicht am Unterricht teil - sie war am Hauptbahnhof.
Zu den Ermittlungspannen zählt auch ein prekäres Fernschreiben des Landeskriminalamts Niedersachsen (LKA) an bundesweite Dienststellen: "Entwarnung im Fall Safia S.", heißt es darin. Und weiter: Nach einer Prüfung seien keine konkreten IS-Bezüge feststellbar. Von der 15-Jährigen gehe derzeit keine Gefahr aus. Das Datum: der 25. Februar.
Nur einen Tag später zeigt sich die fatale Fehleinschätzung. Safia S. attackiert plötzlich und unvermittelt einen Bundespolizisten mit einem Messer. Der Beamte wird am Hals schwer verletzt. Die Stichwunde kann lebensgefährlich sein. Sein Kollege überwältigt den Teenager. Ganz offenkundig haben die Behörden die von ihr ausgehende Gefahr nicht erkannt.