Rutscht Russland in die Rezession?
31. März 2020Die Corona-Krise hat Russland ins Jahr 2002 zurückgeworfen. Zumindest was den Preis für Erdöl angeht, den wichtigsten Exportartikel Russlands. Ende März fiel er auf den niedrigsten Stand seit 18 Jahren. Ein Barrel der europäischen Sorte Brent kostete zwischenzeitlich weniger als 22 US-Dollar, die Notierungen der russischen Sorte Urals betrugen bereits weniger als 17 Dollar.
Streit um Fördermengen führt zu Ölpreisverfall
Die neuerliche Ausverkaufswelle am Ölmarkt ist eine Reaktion auf das Auslaufen der Förderkürzungen im Rahmen von Opec+ - eines Deals zwischen dem Ölkartell Opec und dessen Kooperationspartnern, zu denen auch Russland und Kasachstan gehören. Das Abkommen war seit 2017 in Kraft und wurde immer wieder verlängert. Als angesichts der Corona-Pandemie und des globalen Einbruchs der Energienachfrage Saudi-Arabien und weitere Kartellmitglieder auf einer zusätzlichen Reduzierung der Ölproduktion bestanden, wollte der russische Präsident Wladimir Putin nicht mitziehen. Daraufhin platzte am 6. März der ganze Deal. Ab dem 1. April dürfen alle Vertragspartner, also die Opec-Mitglieder und ihre Kooperationspartner, so viel Öl fördern, wie sie wollen und können.
Als Reaktion auf Putins Absage eröffnete der saudische Kronprinz Muhammad bin Salman sofort einen Preiskrieg. Diesen beschrieb der Rohstoff-Experte der Commerzbank Eugen Weinberg gegenüber der DW so: "Die Saudis bieten den europäischen Raffinerien, den Hauptabnehmern des russischen Öls, ihr eigenes Öl mit einem Abschlag von 10 Dollar zu den Brent-Notierungen an. So etwas hat es noch nie gegeben. Bei solch einem Angebot macht es praktisch keinen Sinn, russisches Öl zu kaufen." Das Ziel dieser riskanten Strategie besteht laut einer aktuellen Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) darin, "den gesunkenen Ölpreis über eine Ausweitung der Erdölexporte zu kompensieren".
Was dieser Verdrängungskampf für den russischen Staat bedeutet, wird klar, wenn man sich die Berechnungen des russischen Finanzministers Anton Siluanow vor Augen hält. Anfang März wies er darauf hin, dass ein ausgeglichener Staatshaushalt bei einem Preis von rund 42 Dollar pro Barrel gesichert sei. Damals lagen die Brent-Notierungen noch etwas darüber. Anfang des Jahres kostete Öl sogar noch fast 70 Dollar. Nun aber liegt der Preis auf einem Niveau, das bei russischen Ökonomen lediglich in Worst-Case-Szenarien vorkam.
Abwertung des Rubels schwerwiegender als Haushaltsdefizit
Das jetzt drohende riesige Haushaltsdefizit ist allerdings bei weitem nicht die größte Herausforderung für Russland. Schließlich machen zurzeit praktisch alle Staaten im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie große Schulden. Das gravierendste Problem für die russische Wirtschaft besteht darin, dass mit dem Ölpreisverfall, bei dem die Deviseneinnahmen wegbrechen, automatisch eine Abwertung der Landeswährung Rubel einhergeht. Das war bereits 2014 zu beobachten. Was darauf folgte, war eine zweijährige Rezession und ein praktisch sechsjähriger Rückgang der Realeinkommen der Bevölkerung. Nun droht eine Neuauflage dieser Krise, verschlimmert durch ein Ausbremsen zahlreicher Geschäftsaktivitäten wegen der zusehends härter werdenden Quarantänemaßnahmen im Kampf gegen COVID-19.
Denn aufgrund seiner unausgewogenen Wirtschafts- und Außenhandelsstruktur wird Russland kaum Nutzen aus den Vorteilen einer Abwertung ziehen können, dafür aber ihre Nachteile mit voller Wucht zu spüren bekommen. Eine schwächere Währung fördert immer den Export, denn man bekommt bei gleichbleibenden Preisen in Dollar oder Euro mehr Geld in heimischer Währung. Allerdings hat Russland im Grunde genommen nur drei Warengruppen, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind: Rohstoffe, Waffen und Agrarprodukte.
Doch die Nachfrage nach Energieträgern und Metallen ist weltweit eingebrochen, und Waffenkäufe werden während des Kampfs gegen das Coronavirus voraussichtlich kaum stattfinden. Russland könnte zwar mehr Getreide liefern, aber genau das wird nicht geschehen, denn die Regierung in Moskau befürchtet eine Versorgungskrise auf dem heimischen Markt. Deshalb hat sie ab dem 1. April für drei Monate Ausfuhrbeschränkungen und feste Exportquoten für Weizen, Roggen, Mais und Gerste angeordnet. Russland wird also relativ wenig von der einzigartigen Situation profitieren, dass eine Tonne russischen Weizens gegenwärtig mehr kostet als eine Tonne russischen Öls.
Starke Importabhängigkeit der russischen Wirtschaft
Umso schmerzhafter werden sich die Nachteile einer Abwertung des Rubels auswirken. Russlands Wirtschaft ist nämlich nach wie vor stark abhängig von Einfuhren, angefangen bei Maschinen und Ausrüstungen über Konsumgüter bis hin zu zahlreichen Agrarprodukten. "Wenn es einen Bereich gibt, in dem wir eindeutig von unseren ausländischen Partnern abhängen, dann ist es das Saatgut", konstatierte noch im Dezember Walentina Matwijenko, die Vorsitzende des russischen Föderationsrates, des Oberhauses des russischen Parlaments. Nicht nur bei Saatgut für Mais, Kartoffeln und Weizen seien russische Landwirte auf ausländische Produkte angewiesen, selbst Samen für Petersilie, Dill und Salat müssten importiert werden.
Diese werden nun erheblich teurer werden, wie auch zahlreiche andere Vorprodukte für im Inland produzierte Waren, seien es chinesische Wirkstoffe für russische Pharmaunternehmen oder Teile für die Automobiindustrie, die vor allem von deutschen Zulieferern kommen. Kostete in Russland Anfang des Jahres ein Euro noch 68 Rubel, sind es heute bereits fast 90. Auf russische Unternehmen und Verbraucher rollt also eine massive Teuerungswelle zu, und das in einer Situation, in der überall Einnahmen wegbrechen.
Zentralasien leidet, Belarus profitiert
In einer ähnlichen Lage befindet sich auch Kasachstan, Russlands größter Partner in der Eurasischen Wirtschaftsunion. Indirekt vom Ölpreisverfall betroffen sind auch andere Staaten Zentralasiens: Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan. Ihre Volkswirtschaften haben bisher enorm von den Geldern profitiert, die Abermillionen in Russland tätige Gastarbeiter nach Hause schickten. Nun verlieren sie wegen der Corona-Krise und der allgemeinen Verschlechterung der Wirtschaftslage in Russland ihre Arbeitsplätze - und kehren massenweise und ohne nennenswerte Perspektiven zurück.
Auch weißrussische Gastarbeiter sind vom Einbruch auf dem russischen Arbeitsmarkt betroffen. Aber ihr Land, Belarus, hat zumindest teilweise vom Ölpreisverfall profitiert. Lange Jahre hat Moskau die beiden Raffinerien seines westlichen Nachbarn, die wichtigsten Devisenbringer des Landes, mit Öl zu Vorzugspreisen beliefert. Als aber der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko sich Ende vorigen Jahres einer weiteren Annäherung an Russland zu Bedingungen des Kremls widersetzte, wurde ihm der Ölhahn zugedreht. Das Kalkül war, Minsk würde den Import von Rohöl zu Weltmarktpreisen nicht lange durchhalten können. Doch jetzt, da diese ins Bodenlose gestürzt sind und saudisches Öl zu Dumpingpreisen auf dem Markt kommt, hat Moskau schnell den Bedingungen aus Minsk nachgegeben, um sich wenigstens diesen Absatzmarkt zu sichern.