Russlands Angst vor den Wahhabiten
17. Dezember 2013Er war der große Schreck in den 90er Jahren in Russland: Emir Ibn al-Chattab, saudi-arabischer Feldkommandant, der in Tschetschenien an der Seite der Separatisten kämpfte. Seinetwegen lernte fast jeder das Wort "Wahhabit". Die meisten Russen haben seitdem große Angst vor Wahhabismus: größer, als vor jeder anderen Gefahr, was auch Umfragen belegen.
Diese Angst spiegelte neulich eines der führenden Wochenmagazine "Russkij Reportjor" wider: Es titelte es mit den Worten "Projekt Kalifat". In der Titelgeschichte ist von einer "wahhabitischen Holding, die ein neues Imperium" in Russland aufbaue, die Rede.
Bis zu 700.000 "Wahhabiten" in Russland?
Journalisten von "Russkij Reportjor" behaupten, in jeder russischen Provinz mit Ausnahme von zwei Gebieten im Norden gebe es mittlerweile eine "wahhabitische" Zelle und viele geheime Waffendepots. Dabei stützen sie sich auch auf die Analyse eines vom Kreml finanzierten Instituts für strategische Forschungen. In Russland, so die Autoren, lebten bis zu 700.000 "Wahhabiten". Ein bekannter russischer Islamwissenschaftler und Koautor der Analyse Roman Silantjew spricht sogar von einer Million radikaler Islamisten.
Sind es wirklich so viele? Es kommt auf die Betrachtungsweise an. In Russland hat die Angst vor islamistischer Gefahr die Menschen in zwei große Lager gespalten.
"Alles Böse, was man über den Islam weiß"
Im Lager der Alarmisten, zu dem auch 36-jährige Silantjew gehört, ist die überwältigende Zahl eher Resultat einer sehr breiten Interpretation des Begriffs "Wahhabismus". Der Experte verteidigt im DW-Interview die Wortwahl: "Mit Wahhabismus verbindet man alles Böse, was man über den Islam weiß".
Infografik
Wahhabismus sei nur eine der panislamischen Ideologien gewesen, die vor 20 Jahren Einzug nach Russland gehalten hätten, sagt dagegen der moderate Kaukasus-Experte Achmet Jarlikapow. Im DW-Interview sagte der Mitarbeiter der Russischen Akademie der Wissenschaften: "Wir haben keine einzige wahhabitische Kommune im Kaukasus registriert." Untergrundkämpfer islamischer Gesinnung seien nicht mit Wahhabismus gleichzusetzen, so Jarlikapow.
Wahhabismus wird oft instrumentalisiert
Der Begriff "Wahhabit" wird zum Teil vermengt und missbraucht, erklärt Witali Ponomarjow von der Menschenrechtsorganisation "Memorial" im DW-Interview. Er verteidigt Migranten aus Zentralasien, denen auch islamischer Extremismus vorgeworfen wird. Der Kampf gegen den "Wahhabismus" werde von Behörden oft instrumentalisiert, um an staatliche Finanzmittel zu kommen, unliebsame Gegner auszuschalten oder befördert zu werden, so Ponomarjow.
Wahhabismus steht für die Alarmisten für alle islamischen Glaubensrichtungen, die nicht dem in Russland traditionell praktizierten Islam zuzuordnen sind und denen politische Ambitionen, also Errichtung eines islamischen Staates, zugeschrieben werden: Salafisten, Muslimbrüder und andere.
Syrien und Angst um Spiele in Sotschi
Warum der russische Staat in den letzten Monaten seinen Kampf gegen radikale Islamisten verschärfte, ist offensichtlich. Man will mit allen Mitteln verhindern, dass es während der Winterspiele in Sotschi zu einem Terroranschlag kommt. Derzeit sind nach Schätzungen des russischen Geheimdienstes FSB mehr als 400 Russen in Syrien und kämpfen dort gegen das Regime von Machthaber Baschar al-Assad.
"Syriens Großmufti spricht von 2000 Wahhabiten aus Russland. Viele von denen behaupten, sie wollen den Kampf in der Heimat fortführen", erklärt der Islamwissenschaftler Rais Sulejmanow aus Kasan', Hauptstadt von Tatarstan, einer russischen Republik, die muslemisch geprägt ist.
Saudi-Arabien spielte ehemals eine wichtige Rolle
Es gibt zweifelsohne radikale Islamisten in Russland, aber was haben sie mit dem Wahhabismus, der in Saudi-Arabien Staatsreligion ist, zu tun? Alle von der DW befragten Experten sind sich einig: Heute hat Saudi-Arabien keinen unmittelbaren und messbaren Einfluss auf Islamisten in Russland, weder ideologisch, noch finanziell.
Das ist ein großer Unterschied zu den 90-er Jahren, als einige Tausend junge Leute nach Saudi-Arabien gingen, um dort den Islam zu studieren. Viele humanitäre saudi-arabische Stiftungen durften damals in Russland aktiv arbeiten und ihre Auslegung des Islam propagieren. Und in beiden tschetschenischen Kriegen kämpften eben auch Freischärler aus Saudi-Arabien an der Seite der Separatisten. Einer von ihnen war Ibn al-Chattab, jener Feldkommandant der im März 2002 vom russischen Geheimdienst getötet wurde und dessen wahhabitischer Glaube heute in Russland als Synonym für radikalen Islamismus steht.