Die Russlanddeutschen
24. Juli 2013Am 22. Juli 1763 setzt sich eine junge Frau an das schmucke Tischchen im Kabinett des Schlosses Peterhof bei Petersburg, holt sich eine Feder und unterschreibt ein "Ukaz", also einen Erlass: "Wir, Catharina die Zweite, Zarin und Selbstherrscherin aller Reußen zu Moskau, Kiew, Wladimir ... Verstatten allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen". Das historische Dokument, das heute im russischen Staatsarchiv gehütet wird, ist in die Geschichte als "Einladungsmanifest" eingegangen.
Das Angebot richtete sich generell an alle Ausländer, vor allem aber an die Deutschen. Zumal auch die Zarin selbst, 1729 als Sophie Friederike von Anhalt-Zerbst in Stettin geboren, eine Deutsche war. Durch einen Staatsstreich und die Ermordung ihres Mannes Peter III. (der als Peter Ulrich von Holstein-Gottorp eigentlich auch ein deutscher Prinz war) kam Katharina im Sommer 1762 an die Macht. Die Einladung der Ausländer nach Russland wurde eine ihrer ersten Amtshandlungen. Mit der Zuwanderung aus dem Westen verband die Zarin "die Hoffnung auf wirtschaftliche, vor allem aber sozial-kulturelle Entwicklung des rückständigen Riesenlandes, dessen Herrscherin sie nun wurde", so die Historikerin Jekaterina Anissimova.
Hoffnung auf wirtschaftliche Macht
In dem für sie typischen prägnanten Stil beschrieb Katharina in dem Manifest die Schätze ihres Reiches mit seinen Flüssen und Seen sowie "allerley kostbaren Erzen und Metallen", die in den Böden auf ihre Entdecker warten. Sie wünschte sich "Vermehrung vielerley Manufacturen, Fabriken und zu verschiedenen Anlagen". Ihr Ziel: Ankurbeln des Bevölkerungswachstums und die wirtschaftliche Eroberung des "wilden Feldes".
Aber natürlich ging es auch um die Stärkung ihrer eigenen Macht durch loyale Bürger. Denn der russische Adel war teilweise gegen die neue Zarin gestimmt, die absolute Mehrheit der Bauern waren Leibeigene und damit Sklaven ihrer adeligen Herrscher.
In ihrem Manifest versprach Katharina zahlreiche Anreize für die Einwanderer aus dem Westen: Befreiung vom Militärdienst, Selbstverwaltung, Steuervergünstigungen, finanzielle Starthilfe, 30 Hektar Land pro Kolonistenfamilie. Zudem wurde die Sprachfreiheit zugesichert, speziell für die deutschen Einwanderer. Vor allem aber: "freie Religions-Übung nach ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen", wie es in dem Manifest heißt.
Und sie kamen…
Gerade die Religionsfreiheit war für die meisten Aussiedler aus dem von Religionskriegen geplagten Europa entscheidend. Zum Beispiel für die Familie Schütz. In den 1780er Jahren übersiedelte die Familie aus Hahnstätten im heutigen Rhein-Lahn-Kreis, einer evangelischen Enklave in dem sonst katholischen Gebiet, nach Russland. Bis heute werden in der Familie Einreiseunterlagen aufbewahrt, wo die russische Migrationsbehörde der Katharinischen Zeit penibel die Anzahl von "Kutschen, Kühen, Weiber und Kinder" vermerkt hat. Eine neue Heimat fand die Familie in der Kolonie "Runde Wiese" bei Tschernigov in der heutigen Ukraine.
Bereits in den ersten fünf Jahren nach dem Manifest kamen über 30.000 Menschen nach Russland, die meisten davon aus Deutschland. Sie siedelten sich vor allem in der Umgebung von Sankt Petersburg, in Südrussland, am Schwarzen Meer und an der Wolga an. Allein im Wolgagebiet entstanden über 100 neue Dörfer.
Als progressive Landwirte, fleißige Handwerker und geschäftstüchtige Unternehmer brachten es die Russlanddeutschen nach dem schwierigen Start im russischen Klima zu einem beträchtlichen Wohlstand. Napoleonkriege sorgten für einen Nachschub an Aussiedlern, und so zählte Russland Mitte des 19. Jahrhunderts bereits über eine halbe Million "Russlanddeutsche".
Von Hahnstätten nach Russland und zurück
Auch die Siedlung Runde Wiese florierte: Man leistete sich die neuesten Errungenschaften der Agrarwissenschaft, Anfang des 20. Jahrhunderts abonnierte die Dorfbücherei Dutzende Zeitschriften aus Deutschland. Wenige Kilometer weiter gab es ein katholisches Dorf, mit dessen Bewohnern die evangelischen "Rundewiesler" allerdings keinen Umgang pflegten. Zum Heiraten ging man lieber zu der Verwandtschaft nach Deutschland. Feste wurden gefeiert, es gab eine deutsche Schule.
Doch im 20. Jahrhundert kam es zum Bruch im Zusammenleben. Bereits der Erste Weltkrieg brachte Probleme: Obwohl zahlreiche Männer als Soldaten auf der russischen Seite kämpften, standen Russlanddeutsche unter Generalverdacht als "potenzielle Verräter". Die deutsche Schule in der Siedlung Runde Wiese wurde vorübergehend geschlossen.
Schweres Schicksal für die Russlanddeutschen
"Das waren aber noch 'Blümchen' im Vergleich dazu, was später kam", sagt Nachfahrin Galina Schütz, die die Dokumente ihrer Familiengeschichte aufbewahrt. Es folgten die schwere Hungersnot in der Ukraine, antideutsche Pogrome, Umwandlung der Kolonie in eine Kolchose, Enteignung wohlhabender Bauern. Und dann: der Zweite Weltkrieg. Wer in den nicht von Hitler-Deutschland besetzten Gebieten Deutsch sprach, wurde nun als "Faschist" beschimpft.
Nach einem Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR wurden alle Russlanddeutschen im Sommer 1941 innerhalb weniger Wochen nach Sibirien deportiert. Auch Familie Schütz. Die Hälfte der großen Familie starb im Arbeitslager an Hunger und Krankheiten. Nach Stalins Tod 1955 zog die Familie nach Kasachstan und dann nach Kalmykien, wo Galina Schütz vor 50 Jahren geboren wurde.
Eine neue Wende in der Geschichte der Russlanddeutschen brachte der Zerfall der Sowjetunion. Denn das Leben, besonders "auf den Hinterhöfen des Imperiums", wurde immer härter. Über 2 Millionen Russlanddeutsche entschieden sich für die Rückkehr in ihre "historische Heimat". Das Land der Urväter, Deutschland, nahm sie als "Spätaussiedler" auf. Nur ungefähr 800.000 Bürger mit deutschen Wurzeln darf heute Russland zählen, die meisten davon wohnen in Sibirien.
Auch Familie Schütz kam zurück - 1995, ziemlich genau 210 Jahre nach der Ausreise. Ohne "Kutschen und Kühe", aber immerhin mit vielen Kindern. Die Familie zog nach Köln, was von Hahnstätten ja nicht so weit ist.
Einwanderung in die alte Heimat
Der Start in der "neuen alten" Heimat war nicht einfach, allein schon wegen der Sprache. "Meine Oma Margarethe sprach kaum Russisch, es sei denn, sie musste schimpfen", erzählt Galina Schütz. Doch sie sprach kein Hochdeutsch, sondern den alten Dialekt Plattdeutsch. "Und als wir nach Deutschland kamen, konnte mein Vater, Theodor Konradowitsch, kein deutsches Fernsehen gucken: Sein Platt aus dem 18. Jahrhundert hatte mit dem modernen Hochdeutsch wenig gemein", erinnert sich Galina Schütz. Etwas besser verstand "Opa Fedja" Holländisch. Auch Galina Schütz musste Deutsch praktisch von null an lernen.
Heimweh? "Ja, immer wieder", gesteht Galina Schütz, die als Tagesmutter tätig ist und damit genau das tut, was sie schon immer tun wollte. Sie träumt zwar hin und wieder von blühender Steppe, von der Weite, auch ihre Jugendfreunde vermisst sie. "Ich bin mir aber sicher, dass meine Kinder und Enkelkinder hier in Deutschland eine bessere und vor allem sicherere Zukunft haben".