Russland sucht Flucht nach vorn
14. November 2015Nach der vorläufigen Suspendierung aller russischen Leichtathleten für internationale Wettbewerbe hat Russland Reformen angekündigt. Die gesamte Führungsriege im russischen Leichtathletik-Verband (WFLA) solle ausgewechselt werden, teilte das russische Sportministerium mit. Innerhalb der kommenden drei Monate solle es Neuwahlen geben. Für diesen Sonntag ist eine Krisensitzung von Sportminister Witali Mutko mit dem Vorstand der WFLA in Moskau angesetzt. Mutko glaubt nach eigenen Worten nicht, dass russische Leichtathleten auch von den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro verbannt werden. "Ich schließe so einen Verlauf der Entwicklung aus", sagte der umstrittene Minister in einem Interview der ARD-Sportschau. "Ich bin sicher, dass es gelingt, die Situation bis zu Olympia zu klären." Doping sei ein Problem der Leichtathletik in der Welt, das nicht in Russland angefangen habe. Alexander Schukow, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees Russlands, kündigte "Reformen in Übereinstimmung mit den IAAF-Forderungen und der Anti-Doping-Gesetzgebung" an.
Coe: "Beschämender Weckruf"
Das Council des Leichtathletik-Weltverbands IAAF hatte den russischen Verband am Freitag vorläufig aus dem Weltverband ausgeschlossen und damit auf gravierende Verletzungen des Welt-Anti-Doping-Codes reagiert, die im Bericht einer WADA-Untersuchungskommission dokumentiert sind. Russland darf nun bis auf weiteres keine Sportler mehr zu internationalen Veranstaltungen schicken. Das Urteil, das mit 22:1 sehr deutlich ausfiel, hat historische Dimension: Noch nie zuvor hatte die IAAF einen nationalen Verband komplett suspendiert. Die Sperre tritt nach IAAF-Angaben unverzüglich in Kraft und ist zunächst unbefristet, so dass sie den möglichen Olympia-Bann einschließt.
"Die Botschaft hätte nicht stärker sein können», sagte IAAF-Präsident Sebastian Coe. Der Weltverband habe die härteste Strafe gegen Russland verhängt, die derzeit möglich sei., so Coe: "Das war ein beschämender Weckruf, und wir sind uns einig, dass Betrug auf keiner Ebene toleriert werden wird." Um wieder in die IAAF aufgenommen zu werden, müsse "die neue Föderation eine Liste mit Kriterien erfüllen", teilte die IAAF mit. In den kommenden Tagen werde der Weltverband ein vierköpfiges Inspektionsteam unter Leitung des Norwegers Rune Andersen einsetzen.
Sportler als V-Leute?
Der deutsche Diskus-Olympiasieger Robert Harting forderte nun auch in anderen Ländern eine rigorose Aufklärung von Dopingvorwürfen. "Wir haben das mit Russland geklärt, jetzt müssen wir nach Kenia und Jamaika rein und die gleiche Untersuchung anstellen", sagte der 31-Jährige der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Das sind richtige Problemfälle in der Leichtathletik." Wäre er Mitglied des IAAF-Councils, hätte er auch für den Ausschluss Russlands gestimmt, so Harting: "Zum einen muss man Machtzentren zerschlagen; für Putin wäre das höchst peinlich. Zum anderen kann man von Athleten verlangen, dass sie sich für einen fairen Wettkampf einsetzen und nicht blind hinter einer Flagge herlaufen." Angesichts der Tatsache, dass sich russische Athleten beim damaligen IAAF-Boss Lamine Diack von Doping-Sperren hätten freikaufen können, sollte es laut Harting vielleicht "ein neuer Ansatz der Doping-Bekämpfung werden, dass man proaktiv Sportler in solche Zirkel einschleust, um sie zu entlarven."
Der ehemalige russische Dopingkontrolleur Witali Stepanow und seine Frau Julia, eine ehemalige Läuferin, zeigten sich erleichtert, dass ihre Aussagen zum systematischen Doping in Russlands Leichtathletik durch die Ermittlungen einer unabhängigen WADA-Kommission bestätigt wurden. "Es macht uns glücklich, dass die Wahrheit im Sport etwas wert ist. Wir bereuen nichts, was wir getan haben", sagten die beiden Kronzeugen in der ARD-Sportschau.
sn (dpa, sid)