Russland: Meinung im Netz unter Strafe
26. September 2015In Nabereschnyje Tschelny in der russischen Teilrepublik Tatarstan ist vor kurzem der tatarische Aktivist Rafisu Kaschapowu zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Er soll zu Separatismus und ethnischem Hass aufgerufen haben. Grundlage für das Verfahren waren drei schriftliche Beiträge und eine Fotocollage, die Kaschapowu im russischen sozialen Netzwerk VKontakte gepostet hatte. Darin äußerte er sich kritisch über die russische Annexion der Krim und die Rolle Moskaus im Ukraine-Konflikt.
Das Internet rücke zunehmend in den Mittelpunkt der Extremismus-Bekämpfung in Russland, sagt Alexander Werchowski vom Moskauer Forschungszentrum Sowa im Gespräch mit der DW. "Echte Gewaltverbrechen werden immer weniger verfolgt, dafür immer häufiger Meinungsäußerungen", kritisiert er. Diese Meinung teilt auch Irina Birjukowa von der russischen NGO Stiftung Öffentliches Urteil. "In jüngster Zeit wird verstärkt gegen unbequeme Bürger vorgegangen, indem ihnen Extremismus vorgeworfen wird. Oft dienen Beschimpfungen und Posts in sozialen Netzwerken dafür als Grundlage", erklärt sie der DW. Die Gesetze seien in diesem Bereich zu ungenau: "Alles ist sehr vage formuliert und ermöglicht verschiedene Auslegungen. Deswegen kann man Extremismus bezeichnen, was man will."
"Hass gegen Staatsvertreter"
So hat beispielsweise im Juni ein Gericht der Stadt Asbest im östlichen Ural den sogenannten Dulles-Plan als extremistisches Material eingestuft. Er ist das zentrale Dokument einer Verschwörungstheorie, nach der der frühere CIA-Chef Allen Dulles im Kalten Krieg einen Plan entwickelt haben soll, wie die USA die Sowjetunion zerstören könnten. Broschüren mit entsprechendem Inhalt lagen bei Einwohnern von Asbest in den Briefkästen. Nach einem vom Föderalen Sicherheitsdienst (FSB) in Auftrag gegebenen Gutachten kamen die Richter zum Schluss, dass die Broschüren Hass auf Vertreter der Staatsgewalt im heutigen Russland schürten.
Ein ähnlicher Fall ereignete sich in der Region Magadan. Im Juni hat die lokale Wahlkommission eine offizielle Verwarnung gegen die oppositionelle Partei PARNAS ausgesprochen: Deren Wahlkampf-Broschüre, in der die illegale Bereicherung von Staatsvertretern thematisiert wurde, würde Hass gegen die "soziale Gruppe der Bürokraten" schüren.
Lange Liste mit Verboten
Kritiker dieser Gesetze nennen auch die sogenannte "Föderale Liste extremistischen Materials" als problematisches Beispiel. "Die Gesetzgeber haben sie selbst nicht mehr im Blick. So manches Material wiederholt sich", betont Irina Birjukowa. Und Alexander Werchowski findet, dass man mit einer Liste, die über 3000 Titel enthalte, gar nicht arbeiten könne. "Es geht hier um Masse. Damit befassen sich keine qualifizierten Leute. Ihnen geht es nur um ihre eigenen Arbeitsbilanzen. Da gibt es völlig irrsinnige Verbote."
So kam indirekt sogar eine Rede des russischen Premiers Dmitri Medwedew auf eine solche Liste. Er hatte sie bei der Auszeichnung einer Spezialeinsatz-Brigade im Herbst 2011 gehalten, danach wurde sie von der Zeitung "Radikale Politik" gedruckt. Doch später befand ein Gericht der Stadt Omsk, dass das gesamte Material der Zeitung - also auch alle abgedruckten Reden und Zitate - als extremistisch einzustufen sei.
Aufsehen erregte auch ein Urteil eines Gerichts im Gebiet Tomsk. Es verhängte eine Geldstrafe gegen zwei Bürger wegen Verbreitung extremistischer Inhalte. Ihr Verbrechen: Sie hatten in einem sozialen Netzwerk einen Clip gepostet mit dem Titel "Donald Duck (verbotene Folge)". Dabei handelte es sich um den Zeichentrickfilm der Walt-Disney-Studios "Der Fuehrer's Face" (Das Gesicht des Führers) aus dem Jahr 1942. Er diente der US-Propaganda gegen Nazi-Deutschland - und gewann einen Oscar.
Kritik vom UN-Menschenrechtsausschuss
Die Experten sind sich einig, dass in den vergangenen Jahren die Gesetze zur Bekämpfung von Extremismus in Russland verschärft und immer uneindeutiger geworden sind. Alexander Werchowski zufolge werden ein und dieselben Dinge manchmal bestraft und manchmal nicht. Es sei unklar, was genau erlaubt und was verboten sei.
Im April 2015 machte der UN-Menschenrechtsausschuss darauf aufmerksam, dass die russischen Anti-Extremismus-Gesetze lückenhaft sind. Er empfiehlt den Gesetzgebern, "extremistische Aktivitäten" klarer zu definieren, deutliche Kriterien für das Verbot extremistischen Materials zu schaffen und die "Föderale Liste" zu überarbeiten. Ferner fordert der UN-Menschenrechtsausschuss Russland auf, Artikel 280.1 des Strafgesetzbuches über die "Propaganda für Separatismus" nicht auf Kritiker der russischen Innenpolitik und der Annexion der Krim zu beziehen.