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Russland: Kaum noch Arzneimittel für AIDS-Patienten

Jennifer Pahlke
1. Dezember 2023

Über eine Million HIV-Infizierte sind in Russland registriert. Eine Therapie bekommt nur die Hälfte von ihnen. Doch während die Infektionszahlen steigen, werden die AIDS-Medikamente immer knapper. Warum?

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Apotheke in der Nähe von St. Petersburg
Mehrere HIV-Medikamente sind in russischen Apotheken kaum noch zu bekommenBild: Maksim Konstantinov/Russian Look/picture alliance

"In Moskauer Apotheken wird kein Dolutegravir mehr ausgegeben", schreiben Patienten des Moskauer AIDS-Zentrums am 22. November 2023 auf der Website des Projektes "Patientskij Kontrol" (übersetzt Patientenkontrolle). Das Medikament zählt zu den Präparaten, die im Rahmen einer Kombinationsbehandlung von HIV eingesetzt werden. Doch es ist nicht das einzige Medikament zur Behandlung von HIV, das kaum noch zu bekommen ist. In Russland herrscht ein buchstäbliches Medikamenten-Defizit.

Eine Epidemie außer Kontrolle

Nach offiziellen Angaben gibt es in Russland über 1,13 Millionen Menschen, die mit dem HIV-Virus leben. Doch die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher sein. Wie viele Menschen genau infiziert sind, lässt sich nur schwer ermitteln. Wie so oft sei den offiziellen russischen Statistiken auch bei diesem Thema kaum zu trauen, erklärt Ekaterina Stepanova, Ärztin in einer russischen Privatklinik: "Bei uns befinden sich 27 Regionen im allgemeinen Stadium einer HIV-Epidemie. Das bedeutet, dass mehr als ein Prozent aller schwangeren Frauen positiv auf HIV getestet wurden. Das ist schrecklich, denn es zeigt, wie weit verbreitet die HIV-Infektion in Russland ist." 

AIDS-Test in einer mobilen Teststation in der Metro von Jekaterinburg.
Ein Mann kommt zu einem AIDS-Test in einer mobilen Teststation in der Metro von JekaterinburgBild: Donat Sorokin/dpa/picture alliance

Zudem erhalten bei weitem nicht alle HIV-Infizierte eine Behandlung mit Medikamenten: Es herrscht ein gravierender Mangel an Immunpräparaten in Russland. Gerade einmal 52 Prozent aller registrierten Patienten bekommen kostenlos ihre Medikamente. Dafür müssen sich Infizierte mit ihrem Status als HIV-Positive registrieren und in eine Datenbank aufnehmen lassen. Viele trauen sich jedoch nicht, sich registrieren zu lassen - aus Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung aus dem eigenen Umfeld. Denn AIDS ist in Russland noch immer ein riesiges Tabuthema. Nicht nur aus Mangel an Informationen, sondern auch aufgrund der Vorurteile, dass HIV nur bestimmte Bevölkerungsgruppen betreffe: Homosexuelle, Prostituierte, Drogenabhängige. Dies sind stigmatisierte Gruppen in Russland, die mit Diskriminierung und Strafverfolgung rechnen müssen. "Deswegen ist die Arbeit in diesen Schlüsselgruppen momentan besonders schwer", erläutert Stepanova im DW Interview.

Vorurteile und Unwissenheit

Jemand, der offen zu seiner HIV-Diagnose steht, ist Aleksej. Er wohnt in Moskau und erinnert sich daran, als er seine Diagnose bekam: "Ich war acht, als ich erfuhr, dass ich schon von Geburt an über meine biologische Mutter infiziert gewesen war. Ich war damals wegen einer Vergiftung im Krankenhaus und sie haben es zufällig herausgefunden. Ich habe mir damals nichts weiter gedacht, ich war ja ein Kind ohne Vorurteile!"

Bis er vierzehn war, hat er in verschiedenen Kinderheimen gelebt. Grundsätzlich habe er als Kind keine Diskriminierung wegen seiner Krankheit wahrgenommen. Erst später hat er bemerkt, dass er durchaus von Vorurteilen geleitet behandelt wurde: "Als Kind habe ich mich nicht gewundert, wieso mein Geschirr, mein Teller und meine Tasse immer zusammen mit mir das Kinderheim gewechselt haben. Ich fand das irgendwie sogar gut. Erst später wurde mir bewusst, dass es wegen meiner HIV-Diagnose war!" Er vermutet aber, dass dies nicht aus Boshaftigkeit erfolgt ist, sondern einfach, weil die Menschen nicht wirklich viel über das Virus wussten.

Trotzdem hat auch er später Diskriminierung erfahren, was Aleksej sehr mitgenommen hat: "Einmal war ich mit Freunden unterwegs in einer Bar, dort habe ich ihnen von meiner Infektion erzählt. Da haben sie mich gefragt, aus welchem Glas ich getrunken habe, damit sie es nicht verwechseln. Das hat mich aus irgendeinem Grund so sehr verletzt, dass mir die Tränen gekommen sind." Das HI-Virus gehört zu den schwer übertragbaren Krankheitserregern und lässt sich im Wesentlichen nur durch Kontakt mit Blut oder ungeschützten Sex übertragen.

Medikamente sind Mangelware

In Russland gibt es natürlich auch die Möglichkeit, sich in privaten Kliniken behandeln zu lassen. Dort muss man aber für die Medikamente selbst zahlen. Diese kosten in der Regel zwischen 4000 und 9000 Rubel (ca. 40 bis 90 Euro) pro Monat, was sich nicht jeder in Russland leisten kann. Ekaterina Stepanova erzählt: "Meine Patienten kaufen ihre HIV-Medikamente meist selbst. Diejenigen, die sie kostenlos erhalten oder zusätzlich welche kaufen können, bringen sie hierher und wir verteilen sie dann an jene, die keine Medikamente haben. Wir helfen uns hier gegenseitig!"

Aber warum sind die Medikamente zur Behandlung von HIV überhaupt so knapp? An den internationalen Sanktionen gegen Russland liegt es nicht, denn lebensnotwendige Medikamente sind von ihnen ausdrücklich ausgenommen. Zudem existieren auch günstigere russische Generika. Trotzdem sind diese nicht ausreichend für die Zahl der HIV-Patienten in Russland.

Ein Grund ist, dass das Budget des russischen Gesundheitsministeriums für die Anschaffung von HIV-Medikamenten seit Jahren stagniert, obwohl die Zahl der Infizierten kontinuierlich steigt. Bereits für die Medikamentenversorgung für das Jahr 2021 sei in Russland auf das festgelegte Budget für die Jahre 2022 und 2023 zugegriffen worden, berichtet die ITPC (International Treatment Preparedness Coalition), eine internationale NGO, die sich für eine bessere Behandlung HIV-Infizierter weltweit einsetzt. Dass derzeit fast alle Ressourcen des russischen Staates in den Angriffskrieg in der Ukraine fließen, hat die Situation zusätzlich verschärft.

Eine Mitarbeiterin mit Haarschutz und Maske steht in einem Raum mit medizinischen Geräten und rosafarbenen Wänden.
Mitarbeiterin im Moskauer Forschungszentrum für AIDS-Kontrolle und PräventionBild: Sergei Bobylev/dpa/picture alliance

Hinzu kommt eine wachsende Bevölkerung, die auch eine Zunahme von HIV-Patienten bedeutet. Im Oktober 2022 wurden die illegal annektierten Gebiete im Osten der Ukraine (Oblaste Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja) , in denen bis zu 11 Millionen Menschen leben, zu russischem Staatsgebiet erklärt. Auch die Patienten hier müssen seitdem vom russischen Gesundheitssystem versorgt werden. Darüber hinaus werden offiziell bis Ende 2023 rund 60.000 Neuinfektionen mit dem HI-Virus in Russland erwartet. 

Jennifer Pahlke, Autorin
Jennifer Pahlke Korrespondentin