100 Tage Putin Bilanz
15. August 2012DW: Der alte und neue russische Präsident Wladimir Putin hat sich auch als Ministerpräsident nie von den Hebeln der obersten Macht entfernt. Vor 100 Tagen trat er seine formell dritte Amtszeit als Präsident an. Im Vorfeld der Wahl Anfang März wurde spekuliert, ob es einen neuen Putin geben werde. Ist das so?
Hans-Henning Schröder: Ich habe eher den Eindruck, dass wir einen uralten Putin haben, einen, der viel von dem vergessen hat, was er zwischen 2000 und 2008 gemacht hat. Er war einmal reformfreudig. Er hat neue Anstöße gegeben. Er hatte ein Team, das vergleichsweise fantasievoll versuchte, Politik zu gestalten. Das alles ist im Moment nicht erkennbar.
Wie hat sich seine Mannschaft verändert? Wer sind seine Berater?
Es hat eine Reihe von Umstellungen gegeben. Einige Leute, die gerade im innenpolitischen Bereich zu durchaus intelligenter Manipulation fähig waren, wie Wladislaw Surkow oder Gleb Pawlowski, sind jetzt nicht mehr in der näheren Umgebung des Präsidenten. Da finden wir Leute wie Sergej Iwanow, die vergleichsweise fantasielos auf Herrschaft setzen und eher repressive Instrumente nutzen würden.
Hat man sich im Fall "Pussy Riot" in Russland verkalkuliert? Hätte man den drei Frauen der Band wegen Rowdytums einfach eine Geldstrafe für ihr "Punk-Gebet" gegen Putin in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale aufgebrummt, dann wäre die Sache vielleicht schnell vergessen worden. Doch jetzt redet die ganze Welt über den Gerichtsprozess und die mögliche Haftstrafe.
Das war ausgesprochen dumm gehandhabt. Es gibt sicher eine große Mehrheit in der russischen Bevölkerung, die es ablehnt, was die Frauen der Punkband getan haben. Aber die Art, in der das Gericht und die orthodoxe Kirche verfahren, hat Sympathien für diese drei Frauen von "Pussy Riot" geschaffen. Im auswärtigen Bereich hat Russland noch einmal ganz stark an Renommée verloren. Da zeigt sich auch, dass die jetzige Führung nicht intelligent genug ist, solche Dinge vorherzusehen.
Das Versammlungsrecht in Russland wurde verschärft. Teilnehmer der Demonstrationen gegen Wahlfälschung nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen werden systematisch verfolgt. Was bringt das?
Das werden wir bei den Regionalwahlen im Herbst sehen. In der Tat waren die Massendemonstrationen im Dezember und Januar und dann noch einmal im März und Mai ein Schock für die jetzige Führung. Sie versucht sich Instrumente zu verschaffen, um dagegen auch repressiv vorgehen zu können. Ich glaube nicht, dass dies auf mittlere und lange Sicht erfolgreich sein wird, weil sich die Gesellschaft verändert hat. Wir haben eine moderne Gesellschaft, aber eine veraltete Führung. Das wird einfach zu Konflikten führen.
Aber Putin hat doch die Direktwahl der Gouverneure in den Regionen wieder zugelassen. Ist das nicht ein Schritt zurück zur Liberalisierung?
Das war sicher so gedacht. Wir haben zwei große Schritte im Januar noch unter Präsident Dmitri Medwedew gehabt. Erstens die Zulassung der Wahl der Gouverneure, mit Präsidenten-Filter natürlich. Zweitens die Zulassung von viel mehr Parteien, die zur Wahl antreten können. Wie demokratisch solche Prozesse sind, werden wir im Herbst sehen. Ob Parteien in den Regionen doch unterdrückt werden und ob wirklich alle Kandidaten zu den Gouverneurswahlen zugelassen werden, muss sich in der Praxis beweisen.
Innenpolitik ist heutzutage auch Außenpolitik. Wie steht Russland da? Bundesaußenminister Guido Westerwelle findet harsche Worte für das russische "Njet" zu Syrien im Sicherheitsrat. Staatsministerin Cornelia Pieper sagte im DW-Interview, Russland bereite ihr Bauchschmerzen. Driftet Russland nicht in eine Isolation ab?
Das muss man ganz realistisch sehen. Für die russische Politik gibt es im Moment relativ große Spielräume, weil die USA bis nach den Präsidentenwahlen keine Politik betreiben. Und im Rahmen der EU und der deutschen Politik wird auch bis nach den Bundestagswahlen im Herbst 2013 kein großer Schritt in Richtung Osten mehr gemacht. Moskau hat im Grunde jetzt fast ein Jahr Zeit, die eigene Interessenssphäre abzustecken.
Hans-Henning Schröder ist Leiter der Forschungsgruppe Russland/GUS bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik.
Das Interview führte Alexander Warkentin.