Opposition beklagt Gleichgültigkeit der Wähler
19. September 2016Ella Pamfilowa lächelt nicht, als sie nach einer offenbar schlaflosen Nacht am Montagmorgen vor die Presse tritt. Mit ernstem Gesicht verkündet die Leiterin der Zentralen Wahlkommission in Moskau die Ergebnisse der Sonntagswahl zur Staatsduma, dem russischen Parlament. Die Kreml-Partei "Geeintes Russland" habe mit rund 54 Prozent die absolute Mehrheit über Parteilisten bekommen. Außerdem habe sie mehr als 200 der 225 Direktmandate gewonnen, sagt Pamfilowa. Damit profitierte die vom Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedew angeführte Partei offenbar vom neuen Wahlgesetz, nach dem die 450 Abgeordneten jeweils zur Hälfte über Parteilisten und Direktmandate gewählt wurden.
Die Fraktion des "Geeinten Russland" dürfte im künftigen Parlament mehr als 340 Abgeordnete zählen und damit eine Verfassungsmehrheit haben. Sie und ihre Kollegen seien von einem so hohen Ergebnis überrascht, sagte Pamfilowa.
Der Kreml sieht Vertrauensvotum für Putin
Der Kreml interpretierte das Wahlergebnis als ein Vertrauensvotum. "Es ist offensichtlich, dass eine überwiegende Mehrheit der Wähler de facto dem Präsidenten ihre Unterstützung ausgesprochen hat", sagte am Montag Wladimir Putins Sprecher Dmitrij Peskow. Der Kreml-Chef selbst wertete am Wahlabend den Sieg seiner Partei als einen Wunsch nach Stabilität. "Die Lage ist nicht einfach und die Menschen möchten, dass in der Gesellschaft, im politischen System Stabilität herrscht", sagte Putin. Der Präsident meinte offenbar auch Probleme der russischen Wirtschaft, die vor allem unter niedrigen Ölpreisen aber auch unter den wegen der Ukraine-Krise eingeführten westlichen Sanktionen leidet.
Die Wahlen dokumentieren den Triumph jener Partei mit dem russischen Bären als Symbol, die vor fünf Jahren unter die 50-Prozent-Marke rutschte und von Kritikern als "Partei der Gauner und Diebe" gebrandmarkt wurde. Damals lösten Fälschungsvorwürfe Massenproteste aus - vor allem in Moskau.
Diesmal habe es keine groben Verstöße gegeben, versicherte die Wahlleiterin und ehemalige Menschenrechtlerin Pamfilowa. In einzelnen Fällen werde man Verfahren wegen Verstößen einleiten.
So sind im Internet Videos aufgetaucht, die mutmaßliche Fälschungen dokumentieren. Ein solches Video aus dem südrussischen Gebiet Rostow zeigt, wie eine Frau mehrere Wahlzettel in die Wahlurne wirft. Dieser Fall scheine echt zu sein, sagte Grigorij Melkonjanz von der Wahlbeobachterbewegung Golos (Stimme) im Gespräch mit der DW. Das Ausmaß der Fälschungen im ganzen Land sei schwierig einzuschätzen, da es weniger Wahlbeobachter gegeben habe. Seine NGO habe hunderte Beschwerden über Verstöße erhalten, die man nun überprüfen müsse.
Oppositionspolitiker: Duma nicht legitim
Neben der Kreml-Partei haben die drei bisherigen Duma-Parteien den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft. Nach dem vorläufigen Amtsergebnis liefern sich die Kommunisten (KPRF) und die Rechtspopulisten (LDPR) mit rund 13 Prozent ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den zweiten Platz. Als vierte Kraft ist die linke Partei "Gerechtes Russland" mit rund sechs Prozent wieder dabei. Alle drei sind zwar formell in der Opposition, teilten aber in der Vergangenheit bei wichtigen Entscheidungen meist die Position der Kreml-Partei.
Die kremlkritischen liberalen Oppositionsparteien wie Jabloko oder PARNAS gingen bei dieser Parlamentswahl leer aus. Auch über Direktmandate ist es ihnen nicht gelungen, ins Parlament einzuziehen. Der PARNAS-Vorsitzende und ehemalige Ministerpräsident Michail Kasjanow sagte am Montag in Moskau, die Wahl sei weder frei noch fair verlaufen: "Die so zusammengesetzte Staatsduma wird kein legitimes Organ der Staatsmacht sein."
Historisch niedrige Wahlbeteiligung
Der Sieg der Partei "Geeintes Russland" wird von einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von rund 48 Prozent überschattet. In Großstädten wie Moskau und Sankt Petersburg war die Wahlbeteiligung besonders niedrig. In der Hauptstadt ging nur etwa jeder Dritte zur Wahl (35 Prozent). Es ist das historisch niedrigste Ergebnis. Zum Vergleich: Bei der Abstimmung vor fünf Jahren, im Dezember 2011, war die Wahlbeteiligung doppelt so hoch.
Für den bekannten Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow ist der "Absturz bei der Wahlbeteiligung" vor allem in Moskau die eigentliche Sensation dieser Wahl. "Die am besten ausgebildeten, dynamischen und demokratisch gesinnten Wähler sind einfach nicht zur Wahl gegangen", sagte er der DW. Dies sei die "Hauptkatastrophe", so Ryschkow, der ein Direktmandat anstrebte - und verlor. Auch ein anderer prominenter Oppositionspolitiker, Dmitrij Gudkow, scheiterte. Die Gründe für die Niederlage am Sonntag seien die niedrige Wahlbeteiligung und die Gleichgültigkeit der Wähler, schrieb der 36-jährige Politiker bei Facebook.
In Deutschland waren viele Experten von der niedrigen Wahlbeteiligung in Russland überrascht. "Das senkt natürlich die Legitimität dieser Duma", sagte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Der Sieg der Partei "Geeintes Russland" sehe weniger überzeugend aus. Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sieht dahinter einen Ausdruck der Apathie russischer Wähler. "Das Parlament in Russland ist ohnehin ein schwaches Machtorgan", gibt Fischer zu bedenken. Außerdem seien Gesetze so verändert worden, dass die außerparlamentarische Opposition praktisch keine Chance hätte. Das Ergebnis seien resignierte Wähler, so die Berliner Expertin.