Bürgermeister von Europa
25. Mai 2014Auf die Frage des DW-Reporters, was seine Lieblingsfarbe sei, antwortet Martin Schulz: "Die Farbe ist rot. Ich gehöre zu den Roten. Das ist mein Leben." Seit über 30 Jahren macht Schulz Politik für die Roten, die Sozialdemokraten. Erst als Bürgermeister seiner Heimatstadt Würselen, dann als Fraktionschef der Sozialisten im Europäischen Parlament, dann als Präsident des Parlaments und jetzt als Spitzenkandidat bei der Europawahl. Martin Schulz will nach oben, daran lässt er keinen Zweifel. "Wir brauchen Leute, die Mut haben. Wenn Sie gestatten, dann sage ich Ihnen: Hier sitzt einer", sagte Schulz selbstbewusst in einer Fernsehtalkshow im ZDF.
Vertrauen zurückgewinnen
Er sieht sich als Anwalt der kleinen Leute, die an der Komplexität der Europäischen Union verzweifeln. "Eines der Hauptelemente der Kritik, die mir entgegenschlägt in Europa egal, wo ich bin, ist, dass Menschen mir sagen: Na, ja die EU existiert und sie handelt und sie wirkt in unseren Lebensalltag hinein, aber unsere Stimme zählt ja gar nichts." Das will Martin Schulz ändern und kandidiert für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, also des Chefs der europäischen Verwaltung in Brüssel.
Hier will er für Arbeitsplätze, Steuergerechtigkeit und eine Rückübertragung von Kompetenzen von Brüssel in die Mitgliedsstaaten kämpfen. "Was könnten wir eigentlich, was hier gemacht wird, besser machen auf einer lokalen oder regionalen Ebene? Politik und Verantwortung den Leuten wieder zurück zu geben, das ist sicher ein Stück Rückgewinn des Vertrauens", sagt der SPD-Politiker der Deutschen Welle im Interview. Seine Rolle als Anwalt der normalen Bürger hinderte Schulz nicht daran, neben dem Gehalt des Parlamentspräsidenten noch üppige Zulagen zu kassieren. Erst als das im Wahlkampf kritisiert wurde, ließ Martin Schulz die Zahlungen stoppen.
Schulz liest meist drei Bücher parallel
Seine flotten Sprüche, seine burschikose Art kommt nicht bei jedem gut an. Regierungschefs bezeichnet er gerne mal als "Eierköppe". Kritik kann er wortgewaltig auf seine Gegner niederprasseln lassen. Seinen Mitarbeitern ruft er ab und zu fröhlich zu: "Ihr seid alle entlassen!". Das seien nur Scherze, beschwichtigt Martin Schulz dann, gesteht aber selbstkritisch ein, dass er manchmal zu selbstbewusst sei und zu schnell zu viel wolle.
Diese Erkenntnis kam ihm schon früh. Vor über dreißig Jahren in einer erfolgreichen Therapie gegen seine Alkoholsucht. Martin Schulz wollte eigentlich Profi-Fußballer werden. Der Traum platzte wegen einer Knie-Verletzung. Der damals 24-Jährige suchte Trost im Alkohol, war ganz unten, wollte sich umbringen. Sein Bruder Erwin, ein Arzt, brachte ihn wieder auf den richtigen Weg. Martin Schulz machte sich als Buchhändler selbstständig. Eine Universität hat er nie besucht, aber er liest wie besessen. Noch heute ständig drei Bücher parallel. Schulz ging in die Politik und machte Karriere. Über seine Alkoholsucht, die er besiegt hat, spricht Martin Schulz heute ganz offen.
Europäer von Geburt
Europa wurde dem 58-jährigen Martin Schulz in die Wiege gelegt. Im Dreiländereck von Deutschland, Belgien und den Niederlanden wohnen die Verwandten jenseits und diesseits der Grenzen. Schulz spricht fließend Französisch, Englisch, Italienisch. Und Rheinisch, einen Dialekt, wie er gerne verschmitzt hinzufügt. Seine Verwandten hätten im Ersten Weltkrieg noch aufeinander schießen müssen, weil sie in verschiedenen Staaten wohnten. Diesen Irrsinn habe die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg beseitigt und daran müsse man auch heute immer wieder erinnern. "Wir sind uns als Nachkriegsgeneration häufig gar nicht darüber im Klaren, was wir geerbt haben. Ich habe ein Leben leben dürfen in Freiheit mit Chancen, von denen meine Eltern nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Und das ist uns nichts mehr wert." Martin Schulz ärgert, wie schlecht der Ruf Europas und der EU bei den Wählern ist. Ein spannender Wahlkampf sollte das ändern. Die Entscheidungen dürften nicht mehr von den 28 Staats- und Regierungschefs in den Hinterzimmern von Brüssel gefällt werden, schimpft Schulz bei jeder Gelegenheit.
Allerdings ist er ein wenig sanfter geworden, seit die konservative deutsche Kanzlerin Angela Merkel und seine Sozialdemokraten in Berlin in einer Großen Koalition regieren. Er weiß, wenn er ein europäisches Spitzenamt erreichen will, dann braucht er das Wohlwollen der Regierungschefin des größten Mitgliedslandes. Ein bisschen stolz ist er, dass er die Handy-Nummer von Merkel hat. Das gelegentliche Naserümpfen der Mächtigen in Brüssel, er sei ja als EU-Kommissionspräsident ungeeignet, weil er nie eine nationale Regierung geführt habe, kontert Martin Schulz so: "Ich war nur Bürgermeister einer Kleinstadt, aber ich habe die Sorgen der Menschen um die Schule ihrer Kinder, die Sorge um ihren Arbeitsplatz oder die Sorge um die Pflege ihrer Eltern erfahren - jeden Tag. Ich glaube, was Menschen von Brüssel in der heutigen Zeit erwarten, ist, dass an der Spitze der Kommission jemand steht, der ihre Alltagssorgen kennt und ernst nimmt."
Mensch bleiben
Wenn Martin Schulz mit seinem Wahlkampfteam im Flugzeug oder Auto unterwegs ist, packt er ab und zu ein kleines Plastiktier auf die Armlehne. "Das Tier ist ein Nilpferd. Das ist mein Talisman, ein Hippo. Den hat meine Tochter mir geschenkt, als sie sechs Jahre alt war. Der bringt mir Glück." Seine beiden Kinder und seine Ehefrau sind ihm sehr wichtig. Wenn seine Frau ihn in einer SMS lobt, ist das für Martin Schulz noch besser als eine SMS der Bundeskanzlerin, die er im Amt des Parlamentspräsidenten auch ab und zu erhielt.
Trotz des anstrengenden Wahlkampfs der vergangenen Monate kennen viele Wähler Martin Schulz nicht. Außerhalb der Brüsseler Blase ist er eher unbekannt, aber immerhin bekannter als sein konservativer Gegner als Spitzenkandidat, Jean-Claude Juncker, ehemals Ministerpräsident von Luxemburg. Für den größten Schub in der Popularität sorgte vor nun schon sieben Jahren der konservative italienische Ministerpräsident mit einem unerhörten Vergleich im Europaparlament: "Herr Schulz, in Italien wird gerade ein Film über nationalsozialistische Konzentrationslager produziert. Ich werde vorschlagen, Ihnen die Rolle des Capo, des Lager-Leiters, zu geben", wetterte Silvio Berlusconi 2007. Der Skandal brachte Schulz in Nachrichtensendungen und auf Titelseiten. Inzwischen ist er Berlusconi ein wenig für die unbeabsichtigte Werbung dankbar, aber versöhnt hat er sich mit Berlusconi nie. "Ich kann stur sein", sagt Schulz über sich selbst.