Franz: "Ich wünsche mir viele Sinti und Roma in der Politik"
4. Oktober 2023DW: Herr Franz, was treibt Sie an in Ihrer Musik, in der Politik? Haben Sie ein Lebensmotto?
Romeo Franz: Wenn Sie mich jetzt fragen, würde mir ein Motto auf - und einfallen, das, glaube ich, auch meine Familiengeschichte prägt und meine Vorfahren: Niemals aufgeben!
Interessant, dass Sie direkt auf Ihre Familie Bezug nehmen: Was bedeutet für Sie die Familie?
Für mich bedeutet Familie sehr viel, denn sie ist ein Teil von mir. Und nicht nur, wenn ich von meinen Kindern spreche oder von meinem Enkel, sondern auch meine Vorfahren - meine Großmutter, meine Urgroßmutter, Urgroßvater, Großvater, Großonkel bedeuten für mich sehr viel. Ich habe mich sehr viel mit meiner eigenen Geschichte und meinen Vorfahren auseinandergesetzt. Und ich finde unglaublich viele Parallelen. Ich sehe sehr viele starke Charaktere in meiner Familie, auch bei den Frauen, besonders viele. Ich bin sehr feministisch geprägt worden, gerade von meiner Großmutter und meiner Urgroßmutter, die starke Frauen waren. Sehr starke Frauen. Und heute, in einem gewissen Alter, erkenne ich klar, wie stark die Frauen in meiner Familie mich geprägt haben. Darüber bin ich sehr glücklich. Sie haben ja das auch aus mir gemacht, was ich heute bin.
Was würden Sie für Ihre Prägung als "typisch Sinto" bezeichnen?
Auf jeden Fall ein sehr einschneidendes familiäres Erlebnis: Das ist der Völkermord an meinen Menschen. Ich habe sechs Großonkel und Großtanten im Holocaust verloren. Das hat mich sehr geprägt, und ich glaube, das hat auch jeden Menschen, der Menschen im Holocaust verloren hat, geprägt. Aber ich würde auch sagen, das hat mich als Sinto geprägt: Das ist es, diese massive Diskriminierung, die sogar zum Tod geführt hat - und auch schon vorher diese Ausgrenzung! Und auch die Ausgrenzung, die ich selbst erlebt habe als junger Mensch in der Schule und in der Gesellschaft, das prägt.
Sie bezeichnen sich selbst als preußischer Sinto. Ist das nicht ambivalent?
Empfinde ich gar nicht so. Sinto - das ist eine Ethnie, zu der ich gehöre. Mit einer eigenen Sprache, mit unserer Kultur, unserer Geschichte. Aber ich bin auch ein wirklich deutscher Mensch, ein deutscher Bürger, dessen Vorfahren seit über 600 Jahren hier in diesem Land leben. Schon bevor es Deutschland überhaupt gab! Und meine Urgroßväter, meine Großonkel waren im ersten Weltkrieg, teilweise auch im zweiten Weltkrieg, sie haben für ihr Land gekämpft! Ich spreche jetzt natürlich für mich und meine Familie. Wir haben uns schon sehr stark mit unserer Nationalität identifiziert, obwohl wir so eine grausame Erfahrung machen mussten im Nationalsozialismus. Aber das macht nicht alles aus. Das führt dann nicht dazu, dass ich sage, ich würde das verleugnen. Nein, das ist ein Teil meiner Geschichte, die hat mich geprägt, das gehört zu mir, und es ist gut so.
Zu diesen einschneidenden persönlichen und kollektiven Erfahrungen, die Ihr Leben und Wirken prägen, haben Sie sich auch künstlerisch geäußert. Ihr Geigenspiel ist Teil des Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin...
Das Stück habe ich mit dem Geigenbogen meines Onkels Vinko Paul Franz eingespielt, der vor dem Tor von Auschwitz erschossen wurde. Dieser Bogen ist in meine Hände gelangt, er hat den Holocaust, diese Wirren des Dritten Reichs danach überlebt. Ich habe mit ihm diese Melodie eingespielt, die ich wohlüberlegt komponiert habe. Was ich damit aussagen will, war wirklich kein einfacher Prozess.
Ich habe mich viel mit Dani Karavan, dem Schöpfer des Denkmals, auseinandergesetzt. In diese Melodie habe ich wirklich versucht, alles hineinzubringen, was wir als Überlebende und ich als Nachkomme meiner Menschen, die diese schreckliche Zeit erlebt haben, hineingeben können. Aber es auch verständlich zu machen für die Mehrheitsbevölkerung. Ich glaube, dass dieser Effekt funktioniert. Ich habe viele Menschen gehört, die mir gesagt haben, dass sie das tatsächlich mitfühlen können. Das macht mich sehr glücklich.
Wer genau sind für Sie "meine Menschen"? Es sind doch ganz viele heterogene, unterschiedliche Gruppen…
Wenn Sie mir die Frage vor zehn, 15 Jahren gestellt hätten, dann hätte ich gesagt: Das beziehe ich natürlich auf meine Familie, meine Sinti. Aber mittlerweile ist dieser Kreis auch größer geworden, die ich als "meine Menschen" bezeichne. Und zwar bezieht sich dann das nicht nur auf die familiäre und auf die ethnische Verbindung. Weil ich mittlerweile Erfahrungen gemacht habe mit Menschen, die nicht aus meiner Familie sind, aber das gleiche fühlen und sich solidarisch erklären, aus reinem Herzen. Und diese Menschen beziehe ich mit ein.
Das Denkmal hat auch einen ganz starken didaktischen Sinn, nämlich an die über eine halbe Million Menschen, die so unschuldig ums Leben kamen, umgebracht wurden, zu erinnern. Aber es zeigt auch, wie wichtig es ist für unsere Gesellschaft - und damit meine ich nicht nur die Betroffenen, sondern wirklich uns alle, die gesamte Gesellschaft - wie wichtig es ist, dem Rassismus, der Diskriminierung, dem Rechtsextremismus, Rechtsnationalismus zu widerstehen. Wir sehen, was daraus entstehen kann, auch heute. Die Entwicklung in Ländern wie Ungarn mit Orban oder auch in Polen oder Italien und auch in Frankreich zeigt uns, dass eine wirkliche Lehre aus dem Nationalsozialismus scheinbar nicht so gezogen wird. Sonst würden sich Teile der Gesellschaft nicht für rechte Parteien entscheiden und teilweise dem Rassismus frönen. Ich erinnere zum Beispiel daran, was an den Grenzen Europas passiert, dass weiße Menschen mit offenen Armen empfangen werden. Und wenn Menschen kommen, die eine andere Hautfarbe haben oder Menschen mit anderem Hintergrund sind, Roma oder schwarze Menschen, dann ist das oft anders - wie wir in der Ukraine erlebt haben, dass farbige Studenten nicht in die Züge hineingelassen werden. Das bedeutet für mich eine Art Deja-vu.
Sie sind ja Politiker. Was muss passieren, um den Rassismus wirksam zu bekämpfen?
Ich bin der erste Sinto, der tatsächlich im Europaparlament sitzt - und auch der erste mit dieser Erfahrung, dass ich sechs Angehörige im Holocaust verloren habe und direkt auch von Antiziganismus und Ausgrenzung, Diskriminierung und deren Auswirkungen betroffen bin. Es ist wichtig - das habe ich gelernt in der Zeit, seit ich Abgeordneter bin im Europaparlament - gesetzliche Grundlagen zu schaffen. Zu Beginn meiner Arbeit dachte ich: Das Thema Antiziganismus ist extrem wichtig. Wir reden hier von 12 Millionen Menschen mit Romani-Background in ganz Europa, und die sind betroffen von Antiziganismus und leiden darunter.
Aber es ist etwas geschehen in der Zeit, das mich meine Strategie hat ändern lassen: Ich habe erfahren, dass alle diskriminierten Menschen und Gruppen sich zusammenschließen müssen, um gegen Rassismus und Diskriminierung und für eine gleichberechtigte Teilhabe kämpfen müssen. Es ist den Rassisten gelungen, sag ich jetzt mal, dass wir als diskriminierte Gruppen jeder für sich alleine arbeitet. Deswegen sind wir schwach.
Da gibt es so viele unterschiedliche Interessengruppen. Wie kann man es schaffen, da eine Einheit herzustellen oder zumindest eine gemeinsame Willensbildung?
Das kann man schaffen, ich bin davon überzeugt! Ich war im Jahr 2019 eingeladen nach Washington zum US-Kongress und in die Helsinki Kommission. Man wollte informiert werden über die Situation der Sinti und Roma in Europa. Es war ein sehr guter Austausch. Und einen Tag später war ich eingeladen zum Kongress der Black Caucus Foundation. Das ist eine der größten schwarzen Stiftungen mit über 130 Universitäten in den USA. Der ehemalige US-Präsident Obama als Student und viele schwarze, große Persönlichkeiten waren von Black Caucus unterstützt worden. Und ich war da und durfte über meine eigene Geschichte sprechen.
Viele Menschen waren da. Und da geschah etwas, das mich völlig verändert hat. Als ich meine Geschichte erzählte und über die Geschichte des Antiziganismus und die Folgen der Diskriminierung sprach, standen einige der Zuhörer auf, klatschten und weinten und riefen mir zu: "You are our brother, we have the same experience!"
Dieser Moment war für mich wie ein Paukenschlag, der mir plötzlich klargemacht hat, dass ich meine Strategie im Kampf für eine gleichberechtigte Teilhabe für alle Menschen umgestalten muss. Mein Ziel ist, dass wir solidarisch sind. Wenn zum Beispiel ein Mensch mit Behinderung oder ein Sinto oder Rom hier diskriminiert werden, dass dann schwarze Menschen aufstehen und sagen: Stopp, das geht nicht, du diskriminierst jemanden von uns.
Also praktisch Self-Empowerment aus der größeren Gruppe heraus?
Und ein Zusammenschluss der Menschengruppen, die massiv unter Rassismus leiden. Wir stehen im Europäischen Parlament füreinander ein. Ich stehe nicht nur für meine Menschen, für meine Gruppe ein, sondern auch für die Menschen, die eine Behinderung haben oder für Menschen, die jüdischen Glaubens sind oder schwarz. Und dieses Beispiel möchte ich nach vorne tragen, weil ich glaube, dass nur eine Koalition der diskriminierten Gruppen und eine gemeinsame Gegenstrategie zeigen können, dass wir nicht mehr in der Minderheit sind, sondern dass wir laut werden. Und wir sind auch eine Mehrheit.
Was ist denn Ihr Appell, Ihr Wunsch an "Ihre Menschen" in Deutschland in diesem Prozess?
Man kann natürlich nicht generalisieren und sagen: Du musst Dich dafür einsetzen! Das muss jeder Mensch für sich selbst entscheiden. Es kommt auch immer darauf an, in welcher Situation er ist. Ich kenne viele Menschen, die Sinti sind oder Roma, die sich nicht outen - aus einem guten Grund, weil sie Angst haben, ihre Existenz zu verlieren. Wir haben sehr viele, die in den 60er, 70er Jahren aus Ex-Jugoslawien hierherkamen und in Deutschland sehr erfolgreiche Geschäftsleute wurden. Aber ihren Kindern und sich selbst haben sie verboten, Romanes zu sprechen, damit sie nicht als Roma geoutet werden. Das hatte zur Folge, dass auch diese Generationen dann kein Romanes mehr sprechen. Das führt zu einer Entfernung von der eigenen Kultur. Das muss man akzeptieren.
Ich kann das nicht auffangen, ich kann nicht versprechen: Du wirst dann nicht diskriminiert. Aber die Menschen, die stark sind und die das möchten, die müssen die Möglichkeit haben, sich zusammenzuschließen mit anderen Gleichgesinnten. Und das schaffen wir. Wir haben das auch in Deutschland schon geschafft. Auch durch die Bewegung, das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma Europas zu schaffen, begann schon eine Zusammenführung der unterschiedlichen Gruppen.
Die Vielfalt unserer Menschen muss wahrgenommen werden
Wie bewerten Sie den heute häufig verwerteten Sammelbegriff "Sinti und Roma"?
Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn man hier die Begrifflichkeit Sinti und Roma wählt. Wenn wir hier in Deutschland sind, im deutschen Raum, dann betrifft das auch tatsächlich die Mehrheit. Aber worum es mir geht, ist, dass man im europäischen Kontext in der Mehrheitsgesellschaft und auf der politischen Ebene tatsächlich nur noch das Wort Roma für alle 12 Millionen Menschen nimmt. Und das ist völlig falsch.
Ich sehe es als meine Aufgabe an, dass die Vielfalt unserer Menschen wahrgenommen wird. Dass man sie auch differenziert benennt und ihnen nicht einfach diesen Hut (Roma) überstülpt. Da sind etwa die Resande in Schweden oder die Manuschen in Frankreich oder die Romanichals, die im englischen Sprachraum leben. Das sind Gruppen, die sich ausgeschlossen fühlen von der europäischen Politik. Denn die Förderungen sind nur für Roma. Und das kommt daher, weil die Europäische Kommission, nicht das Parlament, sich weigert, diese Vielfalt tatsächlich wahrzunehmen. Und das ist ein Punkt, an dem ich sehr stark arbeite.
Wenn Sie später auf Ihr Berufsleben zurückblicken, worüber möchten Sie dann sagen: Das habe ich erreicht in meinem Leben, da habe ich einen Unterschied erzeugt?
Eine Sache, die für mich enorm wichtig ist: Ich wünsche mir viele Sinti und Roma in der Politik, dass sie teilhaben und die Gesellschaft mitgestalten. Das wäre ein großer Traum für mich, und daran arbeite ich auch. Das heißt, ich nehme auch viele junge Menschen mit auf den Weg ins Parlament. Sie arbeiten bei mir im Büro. Ich versuche, sie zu unterstützen. Ich bin als Deutscher, als Grüner, der erste Sinto im Europaparlament. Aber das soll nicht so bleiben. Wir müssen da viel präsenter werden, dann dürfen wir mitgestalten. Und ich wünsche mir von der politischen Arbeit, die ich jetzt mache, dass es uns gelingt, ein Gesetz zu schaffen, dass die Nationalstaaten dazu verpflichtet, Rassismus und Diskriminierung, Rassismen in allen ihren Formen, auch den Antiziganismus und Antisemitismus, tatsächlich unter Strafe zu stellen. Und das verbindlich zu regeln in einem Gesetz. Das ist mein großer Wunsch.
Das Interview führte Adelheid Feilcke.