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KunstEuropa

Roma-Kulturinstitut ERIAC: "Gesandschaft unseres Volkes"

12. Dezember 2024

Das im Jahr 2017 gegründete Europäische Roma-Institut für Künste und Kultur ERIAC ist eine weltweit einmalige Einrichtung - auch dank seiner Direktorin und Mitbegründerin, der Budapester Kunsthistorikerin Timea Junghaus.

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Das Europäische Roma-Institut für Künste und Kultur ERIAC verleiht alle zwei Jahre den Tajsa-Preis. Hier eine Aufnahme von der Zeremonie im November 2023
Das Europäische Roma-Institut für Künste und Kultur ERIAC verleiht alle zwei Jahre den Tajsa-Preis. Hier eine Aufnahme von der Zeremonie im November 2023Bild: ERIAC

Es ist völlig dunkel im Theater. Nur ein schmaler Lichtkegel beleuchtet die Bühne. Timea Junghaus, lange braune Haare, schwarzes Abendkleid, steht im Scheinwerferlicht und stellt die Nominierten für den Preis vor. Drei zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, drei Schauspielerinnen und Schauspieler, zwei davon auch Autoren. Timea Junghaus sagt: "Wir ehren mit diesem Preis herausragende Roma-Persönlichkeiten und führende Stimmen der kulturellen Roma-Bewegung unserer Zeit. Es ist der Preis der Roma für jemanden von uns." Das Publikum applaudiert begeistert, viele Anwesende jubeln.

Eine Szene von der Verleihung des Tajsa-Preises, im November 2023 im randvollen Berliner Gorki-Theater. Der Tajsa-Preis, benannt nach dem Romani-Wort für morgen, ist international der wichtigste Kulturpreis von und für Roma. Er wird alle zwei Jahre an eine oder einen Kulturschaffenden der Roma vergeben. Schirmherr des Preises ist das Europäische Roma-Institut für Künste und Kultur (ERIAC), dessen Direktorin Timea Junghaus ist.

Eine Frau (Timea Junghaus) an einem Pult hinter einem Mikrofon
Die ERIAC-Direktorin Timea Junghaus bei der Verleihung des Tajsa-Preises im November 2023Bild: ERIAC

Was sie über diejenigen sagt, die nominiert sind, gilt vor allem auch für sie selbst: Timea Junghaus ist eine herausragende kulturelle Repräsentantin der europäischen Roma. Sie war vor einem Jahrzehnt Mitinitiatorin eines Aufrufs zur Gründung eines europäischen Kulturinstitutes für Roma. Sie hat entscheidend mit dazu beigetragen, dass Roma im europäischen Kulturleben nicht mehr nur ein verschämtes Nischendasein fristen. Sondern dass auf dem Kontinent eine ganze Generation stolzer, selbstbewusster Roma-Kulturschaffender präsent ist. Sie hatte auch die Idee zum Tajsa-Preis - und hat damit ein Stück Glanz und Glamour in die Roma-Kulturszene gebracht. Denn zu den Preisverleihungen kommt jedes Mal ein Großteil der Roma-Kulturelite aus aller Welt.

Aufgewachsen im 8. Bezirk

Timea Junghaus stammt selbst aus einer, wie sie sagt, "Familie von Roma-Celebrities". Sie wurde 1975 in Budapest geboren. Ihr Vater hatte einen Zirkus und war in den 1960er Jahren ein bekannter Boxer in Ungarn, ihre Mutter stammte aus einer bekannten Budapester Familie von Roma-Musikern. Die Eltern ließen sich kurz nach der Geburt scheiden, Timea wuchs allein mit ihrer Mutter auf, im 8. Bezirk Budapests - jener Bezirk der ungarischen Hauptstadt, der seit vielen Jahrzehnten als "Roma-Ghetto" und Elendsviertel verrufen ist, in dem es jedoch ein von der Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommenes intensives Kulturleben gibt.

"Natürlich konnte ich als Romni aus dem 8. Bezirk nie dem Thema der Diskriminierung entkommen", erzählt Timea Junghaus. "Dennoch war es für mich gut und interessant, dort aufzuwachsen, denn damals kam die amerikanische Rap-Kultur auf, und das machte sich auch im 8. Bezirk bemerkbar. Es gab auch viele Restaurants und Kneipen mit Roma-Musik. Viele Stars der ungarischen Roma-Musik kamen aus dem 8. Bezirk."

Sie habe als Kind und Jugendliche vor allem den "komplexen strukturellen Rassismus in all seinen Schattierungen" erlebt, sagt Timea Junghaus. Etwa durch die Bemerkung eines Lehrers, als es um einen Diebstahl in der Klasse ging. Es habe geheißen, sie sei zwar "Zigeunerin", könne den Diebstahl aber wohl nicht begangen haben, denn sie sei ja eine gute, gewissenhafte Schülerin. Oder durch ein Spielverbot mit einer ungarischen Freundin, deren Mutter der Tochter Umgangsverbot mit der Begründung erteilte, dass "Zigeunerinnen früh reif sind und früh sexuelle Kontakte hätten".

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"Ich war eine sehr gute Schülerin", erzählt Timea Junghaus. "Wenn ich solche Sachen hörte, dachte ich, dass es völlig egal ist, was ich tue und erreiche, denn ich bleibe sowieso immer die Zigeunerin. Und dass es das Beste ist, wenn ich solche Sachen einfach runterschlucke und akzeptiere."

Erster Roma-Pavillon auf der Biennale

Sie habe früh gewusst, dass sie Kunstgeschichte studieren wollte, und diesen Wunsch habe sie dann an der Budapester Universität verwirklicht, sagt Timea Junghaus. "Auch in dieser Zeit versuchte ich, das Thema meiner Herkunft eher zu vermeiden. Wenn jemand mich darauf ansprach, antwortete ich ausweichend. Das änderte sich erst gegen Ende meines Studiums. Ich wusste nicht genau, über welches Thema ich meine Diplomarbeit schreiben sollte. Eines Tages nahm meine Professorin mich mit in die Kunstsammlung des Roma-Parlaments in Budapest. Dieses Erlebnis packte mich. Ich schrieb dann meine Diplomarbeit über moderne Kunst von Romnija in Ungarn. Darüber, in welchem doppelten Zwiespalt sie steckt, im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft und zu ihrer eigenen Gemeinschaft. Die Kunst der Roma wurde bis dahin als etwas Randständiges, bestenfalls Naives abgetan. Moderne Kunst bei Roma, sowas gab es überhaupt nicht. Damit habe ich etwas ganz Neues berührt."

Ein Raum mit braunen Wänden, darin Bilder und ein hängendes Boot mit Rudern
Kunstinstallation im Roma-Pavillon der BiennaleBild: ERIAC

Ihren Abschluss an der Budapester Eötvös-Lorand-Universität machte Timea Junghaus 2003. Danach arbeitete sie in Roma-Kunstprojekten, als Leiterin von Roma-Kunstsammlungen und als Kuratorin von Ausstellungen von Roma-Künstlern. Im Jahr 2007 organisierte sie beispielsweise den ersten Roma-Pavillon der Biennale in Venedig - ein Meilenstein für Roma und für ihre Kunstszene. Gleichzeitig war sie als Forscherin, Wissenschaftlerin und Publizistin tätig. 2010 wurde sie in die Ungarische Akademie der Wissenschaften berufen - als erste Roma-Kunsthistorikerin in der Geschichte Ungarns.

Ein Traum wurde Wirklichkeit

Im Jahr 2014 war Timea Junghaus Mitbegründerin einer Initiative von namhaften Roma-Intellektuellen, die sich für die Gründung eines europäischen Roma-Kulturinstitutes einsetzten und dafür unter anderem um die Unterstützung des Europarates warben. Was anfangs wie ein Traum erschien, wurde nach drei Jahren Wirklichkeit: Im Juni 2017 wurde das Europäische Roma-Institut für Kunst und Kultur im Hof des Auswärtigen Amtes in Berlin feierlich eröffnet. Hauptförderer des ERIAC sind der Europarat, die Open Society Foundations des US-Börsenmilliardärs und Philantropen George Soros, die EU und das Auswärtige Amt. Heute hat ERIAC seinen Sitz im Herzen von Berlin in der Reinhardtstraße - "genau zwischen Bundestag und Hauptbahnhof", wie Timea Junghaus betont.

Zwei Frauen, fotografiert von hinten, die vor einem Bild stehen
Besucherinnen einer Ausstellung in den Räumen des ERIAC in BerlinBild: Esra Gültekin

Sie hatte ursprünglich nicht vor, ERIAC-Mitarbeiterin oder gar Direktorin des Instituts zu werden. Immerhin arbeitete sie an der prestigeträchtigen Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Doch dann überzeugten sie Gespräche mit Freunden und Aktivistenkollegen. Sie bewarb sich für den ERIAC-Leitungsposten - und bekam ihn.

Knapp acht Jahre später sagt Timea Junghaus selbstbewusst: "Zu Anfang waren wir nur eine dieser vielen kleinen Roma-Initiativen, wie es sie zu Tausenden oder Zehntausenden in Europa gibt. Inzwischen können wir unsere Tätigkeit aber mit dem Goethe-Institut, dem British Council oder dem Institut francais vergleichen."

Weit mehr als nur Kunst

Zwar sind rund 150 Institutionen und Organisationen Mitglied bei ERIAC. Aber das Institut ist weder eine Koordinationsstelle noch ein Dachverband von Roma-Organisationen, sondern agiert eigenständig. Und: Seine Arbeit besteht in weit mehr als nur darin, zeitgenössische Roma-Kunst zu fördern und zu verbreiten. Ein Projekt des Institutes widmet sich der Schaffung einer vereinheitlichten Romani-Sprache, die als Basis für Lehrbücher an Schulen und Universitäten dienen kann. Denn die verschiedenen Roma-Gruppen in der Welt sprechen jeweils ihre eigenen Dialekte, auch eine einheitliche Schreibweise gibt es nicht. ERIAC hat Jugend- und Medienprojekte initiiert oder nimmt an ihnen teil und berät Filmproduzenten und Regisseure bei ihrer Arbeit, um Roma klischeefrei darzustellen. Das Institut hat die Forschung zum Holocaust an den Roma mit vorangetrieben, und es ist dabei, den Roma-Schriftstellerverband Romani-Pen zu gründen, der auch Mitglied von PEN International werden soll.

Sechs Personen stehen in einem Raum, hinter ihnen an der Wand Porträtfotos
Eröffnung einer Ausstellung in den Räumen von ERIACBild: ERIAC

"Wir sind zu einer Gesandtschaft der Roma geworden, zu einem Träger der Roma-Identität und zu einer Pilgerstätte für Roma-Kulturschaffende aller Art", sagt Timea Junghaus. "Ich würde sogar sagen, dass wir eine Institution sind, die zur Bildung eines nationalen Bewusstseins unter Roma beiträgt. Gleichzeitig leben wir in Europa etwas vor, dass dieser Kontinent von uns lernen kann: Diversität, Multikulturalismus und Vielsprachigkeit - all das gehört zur DNA von uns Roma, die wir hier seit tausend Jahren sind. Wir haben gelernt was Europa ist, lange bevor es den modernen europäischen Gedanken gab, wir haben diese Werte verinnerlicht, aber mir scheint, dass Europa das vergisst."

Und was empfindet Timea Junghaus persönlich, nach so vielen Jahren der Kulturarbeit als Romni, für Roma? Und nach so vielen Jahren als ERIAC-Direktorin? Sie denkt ein wenig nach über die Antwort. Dann sagt sie: "ERIAC arbeitet an Veränderung, aber dafür braucht man Verbündete. Leider gibt es die immer weniger. In vielen europäischen Gesellschaften ist die Situation schlechter als zu Beginn der 2000er Jahre. Rassismus und Antiziganismus breiten sich leider aus. Wir hören immer öfter: 'Was wollt ihr denn noch, ihr habt doch schon so viel?!' Aber persönlich geht es mir gut. Ich fühle mich sehr privilegiert, und im Unterschied zu vielen anderen Roma bleiben mir immer noch die Kunst und die Kultur, und ich kann in diesem Bereich mit den besten Experten zusammenarbeiten, die gleichzeitig auch eine große Sensibilität haben."

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Keno Verseck Redakteur, Autor, Reporter