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PolitikItalien

Roma in Italien: "Wie ausgesetzte Hunde"

Lea Hensen aus Rom
25. August 2023

In Italien leben Tausende Roma seit Jahrzehnten am Rande der Gesellschaft. Rund die Hälfte von ihnen hat einen italienischen Pass, aber bürokratische Hürden und mangelndes Verständnis verhindern ihre Integration.

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Italien | Blick durch Absperrgitter auf das Roma-Camp bei Rom
Ein Roma-Camp am Rande der italienischen Hauptstadt RomBild: Lea Hensen/DW

Ein Kleinkind ohne Hose sitzt auf den Stufen zur Baracke. Andreea, 24 Jahre alt, lange schwarze Haare und Strasssteinchen auf dem Oberteil, schaut ihre Nichte regungslos an. "Meine Tochter war auch ein Jahr alt, als sie starb", sagt sie plötzlich. Warum? Sie schweigt, sie weiß es nicht, vielleicht hat sie es verdrängt. Dann sagt sie plötzlich, es war eine Erkältung. "Die Ärzte haben ihr die falschen Medikamente gegeben." Als das Mädchen fieberte, rief sie den Krankenwagen. Zwei Stunden später war das Kind tot.

Italien | Inneres einer Hütte im Roma-Camp bei Rom
Blanke Armut herrscht im Roma-Camp am Rande der italienischen Hauptstadt RomBild: Lea Hensen/DW

Die Baracke, das sind acht Quadratmeter aus Wellblech, darin Orientteppich, Klappbetten, Kochplatte. Andreea ist im siebten Monat schwanger, ihren echten Namen will sie nicht sagen. Sie ist eine Romni, gehört der Minderheit der Roma an. Andreea ist in Italien geboren. Auch ihre Tochter wurde in Italien geboren, aber sie konnte mit ihr nicht zum Kinderarzt, weil sie keinen Zugang zur staatlichen Gesundheitsversorgung hat. Die Familie hat kein Aufenthaltsrecht, und das schon seit Jahrzehnten. Wie Tausende weitere Roma in der italienischen Hauptstadt Rom lebt sie in einem der acht Roma-Camps, die ursprünglich als Notunterkunft gedacht waren. Und dann Dauerzustand wurden - in der Via di Salone, am weit östlichen Stadtrand von Rom.

Blanke Armut

In der Nähe ist nur noch die Autobahn, die von Rom nach l'Aquila führt. Die Stadt hat die Baracken vor 20 Jahren hier aufgestellt: Strom- und Wasseranschluss, Materialien, die schnell verkommen. Man hat Nummern von außen an die Wände gesprüht. Das war's. Einige haben eine Toilette, andere waschen sich mit dem Schlauch. Die Menschen kommen aus Serbien, Rumänien, Bosnien und Herzegowina, viele haben italienische Pässe - oder gar keine. Manchmal kommen Bewohner anderer Camps vorbei, um zu streiten. Am Eingang steht eine Polizeiwache. Wenn es knallt, schreitet sie manchmal ein.

Wer die Anlage betritt, sieht blanke Armut. Erwachsene mit faulen Zähnen, schlechten Augen. Einige Frauen sind schwanger. Kinder spielen in Bergen aus Müll, alter Kleidung, kaputten Haushaltsgeräten und Schrott. Die Hälfte der rund 300 Bewohner in diesem Camp sind Kinder. Und am Abend kommen die Ratten. Mit Journalisten sprechen? "Du siehst doch, wie wir hier leben", sagt Andreeas Schwägerin, die gerade aus der Baracke tritt. "Sie haben uns hier hingeschmissen wie ausgesetzte Hunde."

Roma in Italien: "Eine Schande, wie Menschen behandelt werden!"

In Italien gibt es, so die Hilfsorganisation "Associazione 21 luglio", rund 180.000 Roma. Die Hälfte von ihnen hat die italienische Staatsangehörigkeit. Genannte Zahlen variieren, ein Zensus nach ethnischen Kriterien ist verboten. Zehn Prozent der Roma leben in Camps, die meisten in den großen Städten. Und die sind der Politik ein Dorn im Auge. Dabei hat sie sie selbst geschaffen, als in den 1990er Jahren Zehntausende Roma aus den Ländern Ex-Jugoslawiens kamen. Aber wohl kaum in einem anderen Land ist die Intoleranz gegenüber der Minderheit so hoch. Bei einer Umfrage des italienischen Instituts gegen rassistische Diskriminierung im März 2023 antwortete mehr als die Hälfte der Befragten, die Roma seien eine Gefahr für die Gesellschaft. In der Hauptstadt Rom waren es mehr als zwei Drittel. Politiker sprechen immer noch von "nomadi", also Nomaden, dabei leben Roma seit rund 600 Jahren in dem Mittelmeerland. Nur drei Prozent von ihnen sind nicht sesshaft. Und geschützt ist die Minderheit, anders als in den anderen EU-Ländern, auch nicht - obwohl Italien ausdrücklich dazu ermahnt wurde.

Gescheiterte Strategie

Ein Mann kommt die Einfahrt hoch, die Kinder rufen seinen Namen. Marco Brazzoduro, 83 Jahre alt, engagiert sich seit mehr als 30 Jahren für die Roma-Familien in der Stadt, hilft ihnen mit der komplizierten Bürokratie. Heute gehen die meisten Roma-Kinder zur Schule - von den Erwachsenen aber können viele nicht lesen oder schreiben, geschweige denn einen Antrag ausfüllen. Die Gesellschaft sagt: Die Roma sind verantwortungslos.

Vor fünf Jahren kündigte die damalige Bürgermeisterin der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Partei, Virginia Raggi, deswegen eine neue Strategie an. Die Baracken sollten endlich verschwinden. Die Roma mehr Eigeninitiative ergreifen. Bevor die Bagger anrückten, bekamen die Menschen ein Schreiben vorgelegt, eine Art Abkommen. Wer sich um Arbeit und Wohnung bemühte, erhielt zwei Jahre lang finanzielle Unterstützung. Fünf Camps verschwanden, einige Hundert Menschen wurden in Sozialwohnungen untergebracht. 2021 verkündete Roms Verwaltung zufrieden, die Zahl der Roma in den Camps habe sich von 4000 auf 2000 reduziert.

Italien | Soziologieprofessor Marco Brazzoduro im Roma-Camp
Der 83-jährige ehemalige Soziologieprofessor Marco Brazzoduro setzt sich für die Rechte der Roma einBild: Lea Hensen/DW

"Ein Vergehen und kein Erfolg", sagt Brazzoduro zu dem Projekt. Wer das Abkommen nicht unterschrieb, sei auf der Straße gelandet. Viele hätten Rom dann eigenständig verlassen oder sich illegal irgendwo ein neues Camp gebaut. "Und was haben die Familien nach Ablauf der zwei Jahre gemacht, wenn die versprochene Unterstützung ausgelaufen ist? Wissen Sie, wie schwer es für einen Rom ist, einen Arbeits- oder Mietvertrag zu erhalten?"

Was läuft falsch?

Der 83-Jährige steuert den hinteren Teil des Camps an. Auf einem Klappbett vor einer Baracke sitzt Mirko, 30 Jahre alt. Auch er wurde in Italien geboren, lebt seit 16 Jahren in der Via di Salone. "Ich will endlich eine normale Arbeit finden und dann ein Haus für meine Familie", sagt er. Wie die meisten in dem Camp verdient Mirko sein Geld mit Schwarzarbeit. Transporte auf dem Bau, Schrott auf dem Trödelmarkt verkaufen, Gelegenheitsjobs, mal hier, mal da. "Wenn du in Italien sagst, du bist ein Rom, bekommst du keine richtige Arbeit", sagt seine Frau Laura. In ein paar Monaten bekommt sie Zwillinge, drei Kinder haben die beiden schon. Dann werden sie zu siebt auf zehn Quadratmetern leben: die Kinder in dem einen Zimmer, die Eltern im anderen mit den Neugeborenen im Bett.

Aber die mangelnde Akzeptanz ist nicht allein der Grund, warum Mirko nicht arbeiten kann. In Italien gilt das ius sanguinis: Kinder bekommen die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern. Mirkos Eltern kommen aus Bosnien, aber sie haben ihn nach der Geburt nicht bei der bosnischen Botschaft in Rom registriert. Mirko ist weder Italiener noch Bosnier, er hat gar keine Dokumente. Und daher hat er auch kein Aufenthaltsrecht - seit 30 Jahren. Mit Brazzoduros Hilfe stellt er nun erstmals einen Asylantrag auf humanitären Schutz.

Italien | Roma-Camp bei Rom, vor einer Hütte
Marco Brazzoduro (re.) berät die Bewohner des Roma-Camps am Rande der italienischen HauptstadtBild: Lea Hensen/DW

Was läuft falsch, dass Menschen über so eine lange Zeit an der Gesellschaft vorbei leben? Bürgermeisterin Virginia Raggi gab ihr Amt vor fast zwei Jahren an den derzeitigen Amtsinhaber Roberto Gualtieri ab. Erst seit dem Herbst 2022 ist ein neuer Ausschuss damit beschäftigt, das Problem wieder anzugehen. Von "breit gefächerten Lösungen fürs Wohnen" ist die Rede, finanziert mit 13 Millionen Euro, zum Teil aus dem Corona-Hilfspaket der EU.

"Das dauert alles viel zu lange", sagt Carlo Stasolla. Der Präsident von "Associazione 21 luglio" sagt, es fehle an konkreten Ansätzen, die individuell auf die Bedürfnisse der Familien eingingen. Die Probleme müssten vor allem in Zusammenarbeit mit den Roma selbst gelöst werden. Als erstes müsse man ihre Dokumente in Ordnung bringen und dann Arbeit finden, die sie leisten könnten. "Wir haben der italienischen Abgeordnetenkammer bereits vor zwei Jahren einen Fahrplan vorgestellt, mit dem wir in Städten wie Asti oder Ferrara ganze Camps integriert haben", so Stasolla. Sein Verein habe zusammen mit dem Soziologieprofessor Brazzoduro und anderen mehrere Monate an einem Plan gearbeitet, der auf Erfahrungswerten in der Zusammenarbeit mit den Roma basiert. Sie sagen: "In zwei Jahren könnten wir das Camp in Via di Salone schließen und die Bewohner vor Ort integrieren." Das Projekt würde halb so viel kosten wie der Plan der römischen Regierung. Sie warten nun auf Antwort.