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"Riot Days" sind noch nicht vorüber

Elizabeth Grenier so
18. November 2019

Auf dem Weg nach Berlin wurde der Freund der Pussy-Riot-Aktivistin Maria Alyochina verhaftet. Er soll politische Gefangene unterstützt haben. Der DW erzählt Alyochina von ihrem Widerstand gegen die russische Regierung.

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Olaga Borisova | Maria Alyokhina | Riot Days
Bild: privat

Pussy-Riot-Mitbegründerin Maria (Spitzname Masha) Aljochina reiste in der vergangenen Woche zu den Ost-Europa-Tagen nach Berlin, die unter dem Motto "Feminismus und Demokratie" standen. Aljochina wurde eingeladen, Auszüge aus ihren Memoiren "Riot Days" vorzulesen. Ebenso geladen: die bulgarische Dichterin Violeta Koleva, die tschechische Autorin Dora Kapralova und die polnische Schriftstellerin Roksana Wiankowska.

Vor der Lesung traf sich die DW mit der russischen Aktivistin, um über die aktuellen Entwicklungen in Russland zu sprechen. Sie tauchte verspätet und ziemlich aufgebracht zum Interview auf. Der Grund: Ihr Freund wurde am Flughafen verhaftet. Er sei wegen der Teilnahme an einer kürzlich stattgefundenen politischen Aktion festgenommen worden, erklärt die Autorin. Die alternative Medienplattform MediaZona, die Aljochina zusammen mit ihrer Pussy-Riot-Koaktivistin Nadeschda Tolokonnikova gegründet hat, berichtet, man habe eine Kopie des Polizeiprotokolls seiner Inhaftierung erhalten. Dmitri Zsorionow (Spitzname "Enteo") sei darin als einer der Aktivisten identifiziert worden, der am 8. November ein Banner an der Bolschoi-Kammeny-Brücke (Große Steinerne Brücke) aufgehängt habe. Auf dem Banner waren Fotos von Personen zu sehen, die von Menschenrechtsaktivisten als politische Gefangene identifiziert wurden. Außerdem waren die russischen Worte "Stop (!) Gulag" zu lesen.

Auf einem Banner, aufgehängt an einem Brückengeländer, sind Menschenrechtaktivisten zu sehen, darüber steht "Stop! Gulag
"Stop! Gulag" steht auf dem Banner, das die Aktivisten in Moskau aufhängtenBild: Alexander Sofeev

Laut Aljochina und MediaZona wurde auch Pussy-Riot-Mitglied Lyudmila Sukova, die ebenfalls an der Aktion teilgenommen hatte, festgenommen und dann mit der Auflage auf freien Fuß gesetzt, eine Woche später vor Gericht zu erscheinen. Die Aktion wurde gemeinsam von Pussy Riot-Aktivisten und Mitgliedern der Dekommunisierungs-Bewegung organisiert. Enteo müsse für fünf Tage in Haft bleiben, so Aljochina gegenüber der DW.

Hunderte von politischen Gefangenen

Das Banner, das die maskierte Aktivisten letzte Woche auf der Brücke in der Nähe des Kremls ausbreiteten, porträtiert Menschen, die bereits inhaftiert sind oder denen noch eine lange Gefängnisstrafe bevorsteht. Die Aktion zielte darauf ab, die Aufmerksamkeit auf diese Fälle zu lenken. Unter ihnen die pro-demokratische Aktivistin Anastasia Shevchenko  sowie Jegor Schukow, Student und Betreiber eines YouTube-Kanals, der die Regierung von Präsident Vladimir Putin kritisiert. Beide stehen unter Hausarrest und warten auf ihre Gerichtsverfahren, die ihnen womöglich eine mehrjährige Haftstrafe einbringen.

Maria Alyokhina von Pussy Riot
Maria Alyokhina, Autorin des Buchs "Riot Days"Bild: picture-alliance

Konstantin Kotov, ein anderer junger Mann, der auf dem Banner abgebildet ist, wurde im September 2019 wegen seiner Teilnahme an mehreren friedlichen Demonstrationen zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. "Er hielt bei einer Demonstration nur ein kleines Stück Papier in der Hand, stellen sie sich das mal vor", erzählt Aljochina. Über seine Geschichte wurde auch in einem Artikel der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" berichtet:  Darin wird auch noch mal darauf hingewiesen, dass "das russische Recht seit 2014 strafrechtliche Sanktionen für die Teilnahme an mehr als zwei ungenehmigten öffentlichen Versammlungen innerhalb von sechs Monaten vorschreibt".

"All das ist eine große Tragödie - und das ist nur ein kleiner Teil davon", sagt Aljochina. "Seit 2012 hat sich unser Land stark verändert. Wir haben jetzt Hunderte von politischen Gefangenen."

Ein ungewöhnliches Paar

Einige Details aus dem Leben von Aljochinas Freund Enteo  lassen aufhorchen. Auch wenn seine Banner heute neben denen von Pussy-Riot-Aktivisten hängen, muss man wissen, dass er 2012 Teil einer Gruppe von Menschen war, die Pussy Riot hinter Gitter bringen wollte. Der damals renommierte rechtsextreme und orthodoxe Aktivist leitete Aktionen gegen Homosexualität und Abtreibung, einige von ihnen endeten gewalttätig. Desweiteren störte er mit gezielten Aktionen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst und Theaterproduktionen, die einen säkularen Staat forderten.

Enteo bei seiner Gerichtsverhandlung 2015 in Moskau
Enteo bei seiner Gerichtsverhandlung 2015 in MoskauBild: picture alliance/dpa/ITAR-TASS/A. Novoderezhkin

Gerade durch solche Auftritte erlangte Pussy Riot aber weltweite Bekanntheit. Inzwischen legendär ist das "Punkt-Gebet" das das Trio am 21. Februar 2012 im zentralen Gotteshaus der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau aufführte. Es richtet sich gegen die enge Verbindung der Russischen Orthodoxen Kirche mit der Staatsmacht; wörtlich heißt es darin unter anderem: "Mutter Gottes, vertreibe Putin!" und "Der Patriarch glaubt an Putin. Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben." Das Ganze dauerte nur 41 Sekunden, machte die drei Frauen aber auf einen Schlag international berühmt. Auch die Texte ihrer Lieder sind feministisch und fordern mehr Rechte für LGBT und rufen zum Widerstand gegen Putin auf.

Als Aljochina Ende 2016 anfing, sich mit Enteo zu treffen, war das für ihre Freunde und die Anhänger der russischen Aktivisten-Szene ein Schock. Und es stellt sich tatsächlich die Frage: Wie konnten diese beiden Menschen eine gemeinsame Basis finden?

Aljochina erklärt, dass Enteo aus seiner orthodoxen Bewegung "Gottes Wille" verbannt wurde, nachdem er sie im Juli 2017 vor dem Justizministerium eingeladen hatte, mit ihm öffentlich die Bibel zu lesen. Die Aktion  richtete sich gegen das Verbot, öffentliche Bibellesungen ohne staatliche Genehmigung abzuhalten. Die orthodoxe Gruppe bezeichnete die Anwesenheit von Aljochina als 'Blasphemie'. "In vielen Dingen hat er seine Position geändert", so Aljochina über ihren umstrittenen Freund. "Er ist kein ultra-rechter Orthodoxer mehr wie früher. Er macht gute Projekte."

Sie spricht über die Arbeit, die Enteo mit seiner derzeitigen Dekommunisierungs-Bewegung leistet, "die sich gegen totalitäre Regime richtet und über das nachdenkt, was in der Sowjetunion passiert ist." Russland hat es bisher vermieden, sich mit den Schrecken der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Stalin wird im ganzen Land immer noch sehr verehrt. 

Laut einer Umfrage der unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada Center vom April 2019 sehen 70 Prozent der Russen der Rolle des sowjetischen Führers Josef Stalin in der russischen Geschichte positiv. Den meisten Zuspruch erfährt er bei den 18-30-Jährigen. Nur wenige von ihnen wissen von den ethnischen Säuberungsaktionen des Diktators. Sie haben keinen Schimmer von den Deportationen, Hungersnöten und millionenfachen Hinrichtungen, die während seines Regimes stattfanden.

Neue Aktivisten-Projekte 

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) musste Russland den drei inhaftierten Mitgliedern von Pussy Riot einen Schadenersatz von 37.000 € zahlen. Am 13. November wurde bekanntgegeben, dass die russische Regierung dem Gerichtsurteil Folge geleistet habe. Aber Aljochina glaubt nicht, dass diese Geldstrafe als Abschreckungsmittel dient: "Es ist nicht Wladimir Putin, sondern das russische Volk. das bezahlt."

Deshalb haben Aljochina und Tolokonnikowa beschlossen, einen Teil des Betrags an verschiedene Projekte zu spenden, darunter ihre Medienplattform MediaZona - eine der wenigen Nachrichtenagenturen, die immer noch Reporter in russische Gerichtssäle schickt und von politischen Fällen berichtet.

Russland Gruppe Pussy Riot mit Masken über dem Kop
Die Pussy Riot Masken sind zu einem ikonischen Symbol des Protestes gewordenBild: dapd

Ein weiterer Teil soll für die Schaffung einer neuen Auszeichnung fließen, des "Pussy Riot Award Against Domestic Violence". Der Preis unterstützt unabhängige Filmemacher, Journalisten und alle anderen, die sich in ihrer Arbeit mit dem Thema häusliche Gewalt beschäftigen. Pussy Riot wird die Auszeichnung in den nächsten zwei Wochen offiziell bekanntgeben, so Aljochina.

Hoffnung auf weitere Mitstreiter

Im Laufe der Zeit sei ein aktivistisches Netzwerk entstanden, das ihr die Kraft gebe, weiterzumachen. "Sogar im Gefängnis habe ich Menschen getroffen, die später zu Aktivisten wurden." 

Inzwischen haben sich auch Aktivisten angeschlossen, die vorher auf einem ganz anderen Feld aktiv waren, wie die Redakteurin der "Riot Days", Olga Borisova (oberes Bild, links). Sie war zuvor zwei Jahre lang in der Überzeugung für die Polizei in St. Petersburg  tätig, auf diesem Weg für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Borisova schreibt in einem Statement auf der Website Batenka.ru, sie sei zur Aktivistin geworden, als sie den Apparat von innen kennengelernt habe.  Ohne sie hätte ich mein Buch nicht schreiben können, sagt Maria Aljochina. Die Hoffnung auf Änderungen im Land treibt sie an. "IUnd ich glaube an Solidarität. Ich weiß, dass ich wirklich gute Freunde habe, die mir helfen, wenn ich in Schwierigkeiten bin - und umgekehrt. Das ist wirklich eine große Sache. Es gibt dir Energie für Tage, Monate und Jahre."