Ringen um Idlib, Ringen um Syrien
29. August 2018Der Appell war dringlich. Alles nur denkbar Mögliche müssten die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates unternehmen, um in Idlib im Nordwesten Syriens eine humanitäre Katastrophe zu vermeiden. Denn käme es wirklich zum Sturm auf die Stadt, sei eine Notlage zu erwarten, wie man sie auch in diesem sieben Jahre andauernden Krieg noch nicht gesehen habe, warnte John Ging, Direktor des Amtes für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen, am Dienstag dieser Woche. Bei einem großformatigen Angriff auf die Stadt müsse man mit einem "worst-case-Szenario" rechnen.
Einen Vorgeschmack eines solchen Szenarios gab es in den ersten August-Tagen, als die Assad-Regierung die Stadt massiv attackierte. Medienberichten zufolge starben über 50 Menschen, Dutzende wurden verletzt.
Dass sich eine Attacke vermeiden lässt, gilt als wenig wahrscheinlich. Idlib stehe im Zentrum zahlreicher Interessen, sagt der türkische Politologe Samir Salha von der Istanbuler Kocali-Universität. "Alle beteiligten Akteure versuchen die Stadt für ihre Zwecke einzusetzen. Die Türkei will ihre Interessen dort ebenso wahren wie die USA. Der Regierung Assad geht es hingegen darum, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen."
Idlib - die letzte Hochburg der Rebellen
Das Interesse an der Stadt ist noch aus einem anderen Grund höher als an anderen im Laufe des Krieges umkämpften Städten. Ortschaft um Ortschaft erkämpfte sich die Regierung Assad, unterstützt von Russland und Iran, in den letzten Jahren ihre Herrschaft zurück. Die Provinz Idlib ist nun die letzte, stark dschihadistisch geprägte Hochburg der Assad-Gegner, gehalten im Wesentlichen von den Milizen der so genannten "Hayat Tahrir al-Sham" ("Organisation zur Befreiung der Levante"), die Nachfolgeorganisation der Nusrah-Front.
Das bedeutet für die Stadt und die gesamte Provinz nichts Gutes. Denn bei bisherigen Kämpfen hatten die Dschihadisten immer noch Rückzugsmöglichkeiten. Um zu verhindern, dass die von ihnen besetzten Orte vollkommen zerstört und deren Bewohner als Geiseln genommen oder getötet würden, bot die Regierung Assad den Milizen an, den Widerstand aufzugeben und aus den jeweils umkämpften Orten abzuziehen. Das ging längere Zeit so, von Ort zu Ort - so lange, bis die Assad-Regierung die meisten Städte wieder kontrollierte.
Mit dem Rücken zur Wand
Die Provinz Idlib ist nun allerdings das letzte Rückzugsgebiet der Rebellen. "Die Assad-Regierung wird sich sicherlich nicht darauf einlassen, dass in Idlib dauerhaft eine Enklave radikaler Dschihadisten installiert bleibt", sagt der Nahost-Experte Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz. Darum müsse man davon ausgehen, dass die syrischen Truppen versuchen werden, die Islamisten zu vernichten. "Das dürfte aber erheblich schwieriger umzusetzen sein als bei den bisherigen Eroberungen. Denn wo sollen die Dschihadisten hin? Sie haben gar keine andere Möglichkeit als sich bis zum Letzten zu verteidigen - wenn nicht doch noch eine überraschende politische Lösung gefunden wird."
In dieser Situation haben sich Medienberichten zufolge russische Unterhändler mit Führern der Milizen getroffen, um Möglichkeiten einer friedlichen Einigung zu erörtern. Die Chancen dazu gelten allerdings als gering - eben weil es für die Milizen schlicht keinen Rückzugsort gilt. Darauf, dass auch die Russen letztlich mit einer gewaltsamen Eroberung der Stadt rechnen, deutet die Konzentration russischer Kriegsschiffe im Mittelmeer hin, die das syrische Militär unterstützen dürften.
Die Sorgen Ankaras
Den Fall einer militärischen Eskalation in und um Idlib erörtern die Russen auch mit Vertretern der türkischen Regierung. Eine Reihe hochrangiger Diplomaten unter Führung des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu reiste am vergangenen Freitag zu entsprechenden Gesprächen nach Moskau. Cavusoglu warnte, die Eroberung der Drei-Millionen-Stadt Idlib würde zu einer humanitären Katastrophe führen. Im Auge hat der türkische Außenminister nicht allein eine weitere Flüchtlingswelle - die Türkei hat bereits knapp drei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen -, sondern auch die Dschihadisten. Diese sollen auf keinen Fall auf türkisches Staatsgebiet sickern. Aus diesen Gründen hat die Türkei in den letzten Tagen und Wochen ihre Grenze zu Syrien ausgebaut und personell verstärkt.
Doch nicht nur die Türken warnen. Noch deutlicher tun das die Amerikaner, gemeinsam mit Briten und Franzosen. Sicherheitsberater John Bolton warnte am vergangenen Wochenende nachdrücklich vor Konsequenzen, sollte das Assad-Regime bei dem Angriff auf Idlib Giftgas einsetzen. In diesem Fall würden die USA "sehr stark antworten".
Der russische Außenminister Sergej Lawrow entgegnete darauf mit einer an den Westen gerichteten Warnung, auf "Provokationen" der Rebellen in der syrischen Provinz Idlib hereinzufallen und die dort geplante "Anti-Terror-Operation" zu behindern. Lawrow warf dem Westen bei einer Pressekonferenz mit seinem saudiarabischen Kollegen Adel al-Dschubeir am Mittwoch in Moskau vor, Spekulationen über einen "angeblich geplanten Chemiewaffenangriff" der syrischen Regierung "aktiv anzuheizen". In Idlib hätten sich Terroristen im Schutz einer Deeskalationszone gesammelt. Diese hielten die Zivilbevölkerung als Geiseln. Aus diesen Gründen müsse "diese Eiterbeule liquidiert werden", so Lawrow der Agentur Tass zufolge.
Die Interessen der USA
Die USA verfolgten mit Blick auf Syrien vor allem ein Ziel, sagt Günter Meyer. Gemeinsam mit Israel und Saudi-Arabien wendeten sie sich gegen eine dauerhafte Präsenz von Assads zweiter Schutzmacht, des Iran, in Syrien. "Sie bieten an, ihre Truppen aus Syrien zurückzuziehen, wenn auch der Iran dies tut." Darauf aber habe sich die syrische Regierung bislang nicht eingelassen. "Darum kann man vermuten, dass die Amerikaner auf ihre militärische Präsenz vor allem in Nordost-Syrien vorerst nicht verzichten werden. Denn damit würden sie de facto kapitulieren und Syrien den Russen und Iranern überlassen."
Für Idlib verheißt das nicht Gutes. Es gebe verschiedene Szenarien für die Stadt, sagt Politikwissenschaftler Samir Salha. "Der wahrscheinlichste ist aber, dass es zum Kampf kommen wird. Denn Assad wird seine militärischen Erfolge komplettieren wollen."
Dass Assad das syrische Staatsgebiet aus der Zeit vor 2011, als die Proteste gegen seine Regierung ausbrachen, absehbar wieder wird herstellen können, scheint zweifelhaft. Dazu sind zu viele fremde Akteure in dem Land, allesamt nicht willens, es in naher Zukunft wieder zu verlassen.