Ringen um die Dschihad-Vorherrschaft
29. Juni 2015Unaufhaltsam verbreitet die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) ihren Schrecken nun auch in Nordafrika. Kurz nach dem verheerenden Anschlag am Strand der tunesischen Urlaubsmetropole Sousse, bei dem am Freitag 39 Menschen starben, bekannten sich Unterstützer des IS zu der Tat. Sie meldeten sich über den Kurzmitteilungsdienst Twitter.
Ob IS-Anhänger wirklich die Drahtzieher des Blutbads sind, lässt sich kaum überprüfen. Das Bekenntnis zeigt aber, dass nun auch im Ursprungsland des Arabischen Frühlings der Konkurrenzkampf unter den Dschihadgruppen voll entbrannt ist. Einige Gruppen hatten der Regierung in Tunis schon den Krieg erklärt, bevor der IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi vor einem Jahr sein Kalifat in Syrien und Irak ausrief. Nun versucht der "Islamische Staat", nach Libyen auch in Tunesien Fuß zu fassen.
Inmitten der unruhigen Region Nordafrika wirkte Tunesien lange wie ein Hort der Stabilität. Anders als im großen Nachbarland Algerien gab es dort in den 1990er Jahren keinen Bürgerkrieg zwischen Armee und Islamisten. Und anders als Ägypten und Libyen überstand Tunesien die Umstürze des Arabischen Frühlings ab 2011 vergleichsweise glimpflich. Mittlerweile hat der Elf-Millionen-Einwohner-Staat eine fortschrittliche Verfassung. Doch das sonnige Urlaubsparadies hat noch eine andere Seite. Viele Regionen sind vernachlässigt und verarmt. Von dort kommen viele der mehr als 3000 Tunesier, die für den IS in Syrien und dem Irak kämpfen. So viele Dschihadisten kommen aus keinem anderen arabischen Land.
Werbung für neue IS-Anhänger
Trotz der vielen Kämpfer aus Tunesien hatte der "Islamische Staat" in deren Heimat lange keine nennenswerte Basis. Das soll sich nach dem Willen der IS-Führung nun ändern. Im März habe die Organisation die "Brüder" dort aufgerufen, den Treueeid auf das IS-Kalifat abzulegen, sagt der Terror-Experte Aymenn Jawad Al-Tamimi von der US-Denkfabrik "Middle East Forum" (MEF). In mehreren Staaten Afrikas haben sich Dschihadgruppen formal der Terrororganisation von Al-Baghdadi unterstellt. Anfang Juni zog offenbar eine Gruppe mit dem Namen "Mudschahedin von Tunesien" nach und rief eine IS-Provinz in Tunesien aus, so Al-Tamimi.
Osama bin Ladens Terrorgruppe Al-Kaida ist dagegen bereits seit 2002 in Tunesien aktiv. Damals bekannte sich die Gruppe zu dem Anschlag auf der Insel Djerba, bei dem 19 Touristen getötet wurden. Unter ihnen waren 14 Deutsche. Später entstand in Nordafrika eine eigene "Filiale" des Netzwerkes mit dem Namen Al-Kaida im islamischen Maghreb (AQMI). Zu dieser Filiale soll die "Brigade Okba Ibn Nafaa" gehören. Sie ist nach einem muslimischen Heerführer aus dem siebten Jahrhundert benannt. Mehrere Überfälle auf Soldaten und Politiker gehen vermutlich auf das Konto der Gruppe. Experten vermuten die Brigade auch hinter dem Anschlag auf das Bardo-Museum in der Hauptstadt Tunis. Bei dem Attentat am 18. März 2015 waren 20 Touristen und ein Polizist erschossen worden. Eine weitere Touristin erlag später ihren Verletzungen.
Ansar al-Scharia auch Wohltätigkeitsorganisation
Viele Mitglieder der "Brigade Okba Ibn Nafaa" sollen der Salafistengruppe "Ansar Al-Scharia" entstammen. Gründer von "Ansar Al-Scharia" in Tunesien - es gibt gleichnamige Organisationen in mehreren Staaten - war Abu Iyadh. Dieser hatte in Afghanistan und Bosnien gekämpft. Abu Iyadh soll hinter dem Anschlag auf die US-Botschaft in Tunis im Jahr 2012 stecken. Er ist seitdem auf der Flucht. Ein Teil seiner Anhänger soll sich IS-Ablegern in Libyen angeschlossen haben. "Ansar Al-Scharia" tritt darüber hinaus als Wohltätigkeitsorganisation auf, wie der Nordafrika-Experte und frühere österreichische Verteidigungsattaché in Libyen, Wolfgang Pusztai, betont. Damit wolle die Gruppe zeigen, dass sie sich auch um die Bedürftigen kümmere.
In Tunesien sind noch weitere dschihadistische Gruppen aktiv. In dieser Szene versucht nun der IS, Anhänger an sich zu binden, betont Terrorexperte Al-Tamimi. Anschläge wie der in Sousse dienten dabei als ein wesentliches Mittel, für die eigene Botschaft zu werben.
Volksaufstand als Ziel
Für den Nordafrika-Fachmann Pusztai spielt es keine allzu große Rolle, zu welcher Gruppe ein Terrorist gehört. "Die verschiedenen salafistisch-dschihadistischen Gruppen werden durch eine gemeinsame Ideologie und eine gemeinsame Vision eines fundamentalistischen Islamischen Staates verbunden", sagt der Sicherheitsanalyst. Anders als im zerfallenden Libyen seien sich die tunesischen Dschihadisten aber bewusst, dass die Aussicht auf einen militärischen Sieg über die Staatsgewalt unrealistisch sei. Ihr unmittelbares Ziel sei die Etablierung von Widerstandsnestern.
Vor allem vom schwer zugänglichen Chambi-Gebirge aus, das an der Grenze zu Algerien liegt, würden sie versuchen, ihre Einflussgebiete auszuweiten. Ihr langfristiges Ziel sei, vermutet Pusztai, eine Art Volksaufstand loszutreten. Den Boden dafür wollten sie mit andauernden Angriffen auf Sicherheitskräfte und auch Urlauber bereiten. Wenn die Urlauber infolge des Terrors wegblieben, werde sich die ohnehin schlechte Wirtschaftslage in dem Land weiter erheblich verschärfen, so das Kalkül der Terrorgruppen. Das dürfte den Dschihadisten erneut in die Hände spielen. Welche Extremistengruppe davon am meisten profitiert, ist nicht abzusehen.