"Es war ihre Entscheidung"
15. Juli 2015Oskar Gröning lehnt sich zurück, versteckt sich fast zwischen seinen beiden Verteidigern, als der Vorsitzende Richter Franz Kompisch ihn zu vier Jahren Haft verurteilt. Die Strafe fällt sechs Monate länger aus, als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte; zugleich ist sie deutlich milder als die 15 Jahre, die laut Gesetz höchstens möglich gewesen wären.
Ausführlich erläutert Richter Kompisch seine Entscheidung. Er folgt dabei nahezu allen Argumenten der Staatsanwaltschaft: Gröning habe sich in Auschwitz in 300.000 Fällen der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht. Gröning, dessen Aufgabe es war, das Geld der ankommenden Lager-Insassen zu "verwalten".
Nebenkläger nicht bei Urteilsverkündung dabei
Der damals Anfang 20-Jährige arbeitete in dem Konzentrationslager außerdem an einer der Bahnrampen. Dort bestand seine Hauptaufgabe darin, das Gepäck der Deportierten zu beaufsichtigen. Doch das mache ihn nicht frei von Schuld, argumentiert der Vorsitzende Richter. "Sich selbst können Sie vormachen, Sie hätten nur auf die Koffer geachtet. Aber Sie haben mitbekommen, was um Sie herum passiert ist und dies durch Ihre Arbeit unterstützt", so die Auffassung Kompischs.
Von den rund ein Dutzend Auschwitz-Überlebenden, die in dem Prozess als Nebenkläger auftraten, ist zur Urteilsverkündung niemand nach Lüneburg gekommen. Das Urteil wurde rund eine Woche früher gefällt als ursprünglich erwartet, weswegen keiner der Überlebenden aus dem fernen Ausland, etwa aus Kanada, anreisen konnte.
Dafür hat sich Leon Schwarzbaum, ebenfalls ein Holocaust-Überlebender, kurzfristig aus Berlin auf den Weg nach Lüneburg gemacht. Der Deutschen Welle sagte er vor Beginn der Verhandlung: "Ich war zwei Jahre lang in Auschwitz." Für den 94-Jährigen ist dieser Prozess deshalb besonders wichtig. "Meine ganze Familie wurde ermordet. 30 Personen. Das hier ist der letzte Prozess, der einem SS-Mann aus Auschwitz gemacht wird."
"Es war Ihre Entscheidung"
Kompisch beschreibt in seinem Urteil das Leben Grönings - von seiner Jugendzeit bis hin zu Details seines Dienstes inm Konzentrationslager Auschwitz. Dem Richter geht es darum, deutlich zu machen, dass Gröning willentlich gehandelt habe. Dass er nicht, wie seine Verteidiger argumentierten, von den Nationalsozialisten verführt worden sei. Weder Grönings als konservativ beschriebene Familie, noch der historische Kontext könnten, so der Richter, dessen Schuld mildern. "Es war Ihre Entscheidung", so Kompisch. "Mit Ihren Aussagen hier vor Gericht haben Sie gezeigt, dass Sie damals ein aufgeklärter Mensch waren."
Der Richter geht darauf ein, dass Gröning freiwillig zur SS gegangen sei. Er sei in Auschwitz stationiert worden und dort auch freiwillig geblieben - trotz der Gräueltaten, von denen er gewusst haben müsse. Kompisch argumentiert, dass der Angeklagte auch die Möglichkeit gehabt hätte, sich an die Front versetzen zu lassen, wo Soldaten dringend gebraucht worden seien. "Ich will Sie nicht als Feigling bezeichnen, Herr Gröning, aber Sie haben sich für den leichteren Weg entschieden und sind bei Ihrer Arbeit am Schreibtisch geblieben."
Berufung möglich
Die Verteidigung des 94-Jährigen hatte für dessen Freilassung plädiert, mit der Begründung, die Justiz habe es in der Vergangenheit versäumt, sich diesem Fall rechtzeitig zu widmen. Ermittlungen, die bereits 1978 gegen Gröning aufgenommen worden waren, wurden eingestellt.
Seine Anwälte sahen es zudem als schuldmildernd an, dass Gröning der Justiz dabei geholfen habe, andere Naziverbrechen aufzuklären. Das allerdings sah der Richter anders: Grönings Aussagen hätten nicht wesentlich zur Aufklärung im Zuge anderer Ermittlungen beigetragen, so der Richter.
Nach Prozessende wollten seine Verteidiger nicht kommentieren, wie Gröning das Urteil aufgefasst hat. Sie würden jedoch prüfen, ob sie in Revision gehen, so Hans Holtermann, einer der Verteidiger, zur DW. "Unter anderem würden wir dagegen vorgehen, dass der Richter nicht anerkannt hat, dass Grönings Aussagen zur Aufklärung anderer Fälle beigetragen haben." Und er fügt hinzu: "In unseren Schlussplädoyers haben wir deutlich gemacht, dass wir da völlig anderer Meinung sind."
Gerechtigkeit unmöglich
Auch einige Anwälte der Nebenkläger sind nicht gänzlich zufrieden mit dem Schuldspruch. "Vier Jahre Haft für 300.000 Opfer? Nein, das ist nicht gerecht", sagt Mehmet Daimagüler. Der Anwalt vertritt den aus Ungarn stammenden Nebenkläger György Schwarc.
"Aber weder ich noch mein Mandant haben hier Gerechtigkeit erwartet. Wir sind froh, dass der Prozess grundsätzlich stattgefunden hat und dass mein Klient die Möglichkeit hatte, hier von seinem Schicksal zu berichten. Das ist weitaus wichtiger als das Urteil. Denn wir leben in einer Zeit, in der einige Menschen den Holocaust verleugnen. Besonders hier in Deutschland spielen einige den Holocaust herunter, indem sie beispielsweise auf die Zahl der Opfer auf deutscher Seite aufmerksam machen."
Medizinische Untersuchung soll Klarheit bringen
Von dem Ergebnis einer medizinischen Untersuchung wird es abhängen, ob der sogenannte "Buchhalter von Auschwitz" seine Strafe absitzen muss. Wegen seines hohen Alters und seiner angeschlagenen Gesundheit ist es unwahrscheinlich, dass Gröning ins Gefängnis muss. In jedem Fall muss der Verurteilte die Kosten für den Prozess tragen, inklusive der Kosten, die den Nebenklägern entstanden sind - insgesamt voraussichtlich ein sechsstelliger Betrag.