Revolte aus Rache in Brasilien
15. Mai 2006Nach amtlichen Angaben wurden zwischen Freitag- und Sonntagabend (Ortszeit) in Brasilien rund 150 Anschläge verübt. Sie trafen Polizeiwachen, Militäranlagen und Streifenwagen sowie Gefängniswachhäuser, Sicherheitsbeamte und öffentliche Einrichtungen. Bei den Angriffen wurden unter anderem Maschinenpistolen und Handgranaten benutzt.
Am Montag (15.5.2006) griffen die Aufständischen mehrere Banken an. Seit dem Morgen fahren keine öffentlichen Busse mehr, viele Fahrzeuge wurden angezündet. Schon am Sonntag waren 35 Nahverkehrsbusse und eine Bankfiliale in Brand gesetzt worden. Außerdem sei die Drogenmafia für Revolten in etwa 60 Gefängnissen verantwortlich, hieß es. Die meisten Angriffe wurden aus der Wirtschaftsmetropole São Paulo gemeldet, aber auch aus anderen Städten des gleichnamigen Bundeslandes - wie Mogi Mirim, São José do Rio Preto, Ribeirão Preto, Osasco, Cubatão und Guarujá.
Vergeltung für Aktion gegen Drogenbosse
Die Aktionen seien eine Antwort krimineller Banden auf die Zwangsverlegung von 765 Häftlingen in den vergangenen Tagen, teilten die Behörden mit. Dabei waren unter anderem mindestens acht ranghohe Drogenbosse isoliert worden. Die Zentralregierung in Brasilia stellte unterdessen dem Bundesland São Paulo die Bundespolizei und die Streitkräfte zur Verfügung. Nach seiner Teilnahme am EU-Lateinamerika-Gipfel in Wien und einem Staatsbesuch in Österreich wurde Staatspräsident Luiz Inácio Lula erst im Laufe des Montags (15.5.2006) wieder in Brasilien erwartet.
Hunderte von Gefängnis-Besuchern wurden am Sonntag von etwa 30.000 revoltierenden Insassen als Geiseln festgehalten. Derzeit sind noch 250 von ihnen in den Händen der Geiselnehmer. Bei den durch verschiedene Anschläge getöteten Menschen handele es sich um 35 Polizisten und Gefängniswärter, drei unbeteiligte Zivilisten sowie 14 mutmaßliche Verbrecher, hieß es. Außerdem seien bei den Revolten in den Gefängnissen mindestens 15 Menschen gestorben. Es seien zudem mindestens 60 Verletzte und 20 Festnahmen registriert worden.
"Hauptstadt-Kommando" stachelt Häftlinge auf
Hinter den Anschlägen wird die Mafiagruppe "Primeiro Comando da Capital" (PCC, Erstes Hauptstadt-Kommando) vermutet. Das PCC wird vor allem von inhaftierten Drogenbossen angeführt und kontrolliert den Drogenhandel in den Gefängnissen. Außerdem soll es in Waffengeschäfte, Entführungen und Banküberfälle verwickelt sein.
Das PCC hat Schätzungen zufolge etwa 5000 Mitglieder und soll seit Jahresbeginn 50 Gefängnis-Meutereien angezettelt haben. Der Nährboden für solche Revolten ist groß, denn die Haftanstalten in Brasilien sind hoffnungslos überfüllt. Allein in den Gefängnissen des Bundesstaats São Paulo gibt es etwa 90.000 Häftlinge, 10.000 davon in der Strafanstalt Carandirú, dem größten Gefängnis Lateinamerikas.
Die Behörden hatten die Überstellung der 765 Häftlinge in ein Sicherheitsgefängnis angeordnet, um einem erwarteten Massenaufstand des PCC am Muttertag vorzubeugen, an dem viele Häftlinge Freigang erhalten und es besonders viele Besucher in den Gefängnissen gibt. Unter den überstellten Gefangenen war auch der mutmaßliche PCC-Chef Marcos Wilian Herbas Camacho.
Zusammen gegen die Mafia
Der Gouverneur des Bundeslandes São Paulo, Claudio Lembo, erklärte, man werde sich dem Organisierten Verbrechen nicht beugen. "Solche Aktionen von Verbrechern werden nie zum Erfolg führen. Das ist eine Verzweiflungstat", versicherte der Sicherheitsminister des Landes São Paulo, Saulo de Castro Abreu Filho. Der Präsident der Abgeordnetenkammer in Brasilia, Aldo Rebelo, zeigte sich allerdings skeptischer. "Wenn die Sicherheitssysteme von Gemeinden, Bund und Ländern in Brasilien nicht zusammengeführt werden, haben wir der Mafia wenig entgegenzusetzen", sagte er.
Medien berichteten, zahlreiche Straßen der Stadt São Paulo seien am Wochenende von schwer bewaffneten Polizeieinheiten abgesperrt worden. Zudem seien wichtige Gebäude wie die Polizeizentrale nun besonders stark bewacht. Der Chef des Landeskriminalamts von São Paulo, Godofredo Betencourt, schlug vor, die Mobilfunkmasten außer Betrieb zu setzen, um die Kommunikationswege der Drogenmafia zu unterbrechen. (reh)