Risikoforscher Renn über die Angst vor der Silvesternacht
31. Dezember 2016Nach den Vorfällen der Kölner Silvesternacht 2016 und dem Terroranschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt haben viele Menschen Angst. sich in die diesjährigen Silvesterfeierlichkeiten zu stürzen. Prof. Ortwin Renn ist international anerkannter Risikoforscher und wissenschaftlicher Direktor des Potsdamer Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS). Im DW-Interview spricht er über den Umgang mit der Angst.
DW: Hat man als Risikoforscher eher mehr oder eher weniger Angst als andere Menschen?
Prof. Ortwin Renn: Ich denke, man hat vielleicht mehr Angst vor den Dingen, vor denen man Angst haben sollte und weniger Angst vor den Dingen, die vielleicht nicht so gefährlich sind, wie man gemeinhin meint.
Wovor sollte man denn überhaupt Angst haben?
Es gibt die sogenannten vier Volkskiller, das sind die Dinge, die einen am ehesten bedrohen. Die sind eigentlich ganz einfach: Das ist zu viel Alkohol trinken über die Festtage, das ist zu viel Rauchen, zu viel und zu ungesund essen und sich zu wenig bewegen. Diese vier Ursachen machen ungefähr zwei Drittel des gesamten Lebensrisikos für Menschen in Deutschland aus.
Davor haben aber eher wenige Menschen Angst, oder?
So ist es, da haben heutzutage kaum Menschen Angst vor. Alle wissen das natürlich, aber alle denken, so schlimm wird das nicht sein.
Haben wir denn dann eher Angst vor Risiken, die harmlos sind?
Ja, wir haben Angst vor Risiken, die plötzlich auftreten und ein hohes Ausmaß an symbolischer Sprengkraft haben, vor Risiken, die uns ungewohnt erscheinen. Sehr viele Menschen haben aktuell Angst von Terrorismus. Aber statistisch gesehen ist es extrem unwahrscheinlich, dass davon irgendjemand in Deutschland betroffen ist. Das heißt nicht, dass es nicht ein kritisches Risiko ist, aber - verglichen mit anderen - ist es eher ein kleines Risiko.
Wie hoch ist im Hinblick auf Silvester das Risiko, dass bei einem Großereignis etwas passiert?
Auszuschließen ist so etwas nie. Bei Silvesterfeiern haben wir mit Personen zu tun, die häufig alkoholisiert sind. Das enthemmt. Und mit Enthemmung gehen eben auch oft unschöne Vorfälle wie die der Kölner Silvesternacht im letzten Jahr einher. Übrigens nicht nur da, auch beim Oktoberfest in München oder anderen Großveranstaltungen, erleben wir Übergriffe, weil sich Menschen nicht mehr unter Kontrolle haben.
Damit muss man leider immer rechnen und es wird auch nicht an jeder Ecke immer ein Polizist stehen können. Aber ich bin schon überzeugt, dass nach der Kölner Silvesternacht im letzten Jahr heute auch die Polizei und andere Ordnungskräfte sehr viel genauer hinschauen werden als vorher.
Kann man die Angst vor einem Ereignis im Vorfeld beeinflussen?
Statistische Informationen können Menschen immer zu einem gewissen Grad positiv beeinflussen. Das hilft aber nicht, das Gefühl der Angst komplett loszuwerden. Man hat immer Angst, ob es jetzt die Angst vor dem Weihnachtsmarkt oder der Silvesterfeier ist. Aber man geht trotzdem feiern, weil man weiß, dass es sehr, sehr unwahrscheinlich ist, dass einem etwas passieren wird. So kann man sich über das Gefühl hinwegsetzen.
Aber Angst per se ist ja auch nützlich. Leute, die keine Angst haben und nur draufgängerisch sind, leben nicht lange. Angst hat eine ganz wichtige Funktion und die auszuschalten, wäre völlig falsch. Das Problem ist einzig, dass sie manchmal ein falscher Wegweiser ist.
Nach dem Terroranschlag In Berlin hat eine die größte deutschen Boulevardzeitungen ganz groß "Angst!" getitelt. Welche Rolle spielt die Berichterstattung der Medien generell im Hinblick auf die Einschätzung von Risiken?
Medien verstärken Ängste sehr stark. Ein Terroranschlag beherrscht als Schlagzeile die Zeitungen und den gesamten politischen Diskurs. Das ist auch nachvollziehbar, da ein Attentat große symbolische Bedeutung hat. Indirekt hat das aber zur Folge, dass Menschen diese Dinge auch in ihrer Wahrnehmung überhöhen, weil sie jeden Tag präsent sind.
Es gibt in Deutschland 4.800 Weihnachtsmärkte, die von ungefähr 30.000.000 Menschen besucht werden. Wenn man dann sagt, 12 Menschen sind ums Leben gekommen, dann ist die statistische Zahl immer noch extrem gering. Aber dieser Anschlag ist natürlich ein Anschlag auf die gesamte Gemeinschaft. Das empfindet die Gesellschaft völlig anders, als wenn Menschen bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen.
Die Balance besteht darin, das miteinander in Beziehung zu setzen: Einerseits ist es ein nationales Problem, wir müssen damit umgehen, wir wollen gegen Terrorismus etwas tun. Aber umgekehrt muss man sich auch sagen, dass der Terrorismus nichts ist, was einen persönlich direkt bedroht, sondern sehr indirekt und sehr unwahrscheinlich.
Welche Möglichkeiten gibt es, an Silvester mit der Angst umzugehen?
Beachten Sie die Regeln des vernünftigen Selbstschutzes und setzen Sie sich nicht wissentlich Gefahren aus. Es ist zum Beispiel immer gut, in einer Gruppe unterwegs zu sein. Außerdem kann man sich vergewissern, dass irgendwo in der Nähe Ordnungskräfte sind. Die üblichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, macht immer Sinn. Gleichzeitig sollte man sich aber auch sagen, dass es selbst in Silvesternächten extrem unwahrscheinlich ist, dass man selbst zum Opfer wird. Vertrauen Sie also darauf, dass Sie zu der großen Mehrheit der Menschen gehören, denen nichts passiert. Wenn Sie Angst haben, lassen Sie sie zu, aber lassen Sie sich nicht von ihr unterkriegen! Lassen Sie auch die positiven Emotionen zu, die man mit Silvester verbindet, zum Beispiel, dass Menschen mit Freude aufeinander zugehen und soziale Nähe zeigen.
Was machen Sie an Silvester?
Wir haben unsere Kinder und Enkelkinder zu Besuch. Großartig rausgehen können wir also nicht. Wir werden wahrscheinlich hier zuhause feiern, uns dann aber zu Mitternacht draußen das Feuerwerk anschauen.