Remarque-Friedenspreis für Aslı Erdoğan
22. September 2017Das Aufatmen kam praktisch in letzter Minute. Da liefen die Vorbereitungen für den Festakt im spätgotischen Rathaus des Westfälischen Friedens, wo auch eine Porträtgalerie der bisherigen Preisträger hängt, längst auf Hochtouren. Die Einladungen waren verschickt, das Buffet geordert. Doch monatelang nur schlechte Nachrichten aus der Türkei. Dann endlich der befreiende Anruf aus Istanbul: Aslı Erdoğan kommt. Sie hat ihren Reisepass wieder.
Das Ausreiseverbot hatte ein türkisches Gericht zuvor aufgehoben. Doch 132 Tage saß sie in Haft - wegen haltloser Terrorvorwürfe. "Überglücklich" sei sie jetzt und "sehr dankbar", sagt die 50-Jährige an diesem Donnerstag vor Journalisten und lächelt in die Kameras. Müde und erschöpft wirkt sie nach all den Strapazen, aber auch wütend: "In der Türkei sind weiterhin mehr als 180 Autoren inhaftiert", rechnet sie vor, "viele andere dürfen das Land nicht verlassen!"
Der Prozess ist noch nicht zu Ende
Den 14. Erich Maria Remarque-Friedenspreis erhält Aslı Erdoğan, wie die Jury meint, "vor allem für ihr journalistisches und schriftstellerisches Wirken", mit dem sie die Auswirkungen der politischen Verhältnisse in der Türkei auf die Menschen und ihren Alltag beschrieb. Die Juroren verweisen etwa auf Erdoğans soeben im Knaus-Verlag erschienene Essaysammlung "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch", die derzeit nicht in der Türkei erscheinen können.
Vorwurf Terrorpropaganda
Der Leidensweg der türkischen Schriftstellerin begann im August 2016. Polizisten nahmen sie und andere Journalisten nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei fest. Der Vorwurf: Terrorpropaganda. Vier Monate später kam Erdoğan unter Auflagen frei. Doch behielten die Behörden ihren Reisepass ein. "Ich habe der Türkei einen Spiegel vorgehalten. Da ihr nicht gefallen hatte, was sie gesehen hat, blieb mir nichts erspart", so Erdoğan erst kürzlich in einem DW-Interview. "Statt sich zu entschuldigen, sucht man Wege, wie man den Druck erhöhen, mich zum Schweigen bringen, mich foltern kann. Ich bin keine politische Figur. Ich bin Schriftstellerin. Was habe ich diesem Land angetan?" Bittere Worte einer Verfolgten, doch ist Erdoğans Prozess noch nicht zu Ende.
Die studierte Physikerin Erdoğan schrieb schon als Kind Gedichte und Kurzgeschichten. Von 1991 bis 1993 arbeitete sie am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf. Von 1994 bis 1996 lebte sie in Brasilien, da sie sich in der Türkei bedroht fühlte. Ihr erster Roman "Der wundersame Mandarin" erschien 1996. Mit ihrem dritten Roman "Die Stadt mit der roten Pelerine", der auch ins Deutsche übersetzt wurde, gelang ihr der literarische Durchbruch. Seither schrieb sie Kolumnen zunächst für die linksliberale Tageszeitung "Radikal", später für die prokurdische Zeitung "Özgür Gündem". Erdoğan ist Mitglied in der Schriftstellervereinigung PEN und war als "writer in residence" wiederholt in Zürich. Für ihre Freilassung hatten sich neben dem PEN auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels eingesetzt, dessen Geschäftsführer Alexander Skipis die Laudatio auf Erdoğan halten wird.
Sonderpreis für "Pulse of Europe"
Aktuell sitzen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen 160 türkische Journalisten und Schriftsteller hinter Gittern, andere sind vor der Verfolgung geflüchtet, darunter auch Can Dündar, früherer Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhurriyet". Die willkürliche Inhaftierung des "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel hat die Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei zuletzt verschärft.
Mit ihrem Friedenspreis, den sie seit 1991 alle zwei Jahre vergibt, erinnert die Stadt Osnabrück an den deutschen Schriftsteller Erich-Maria-Remarque, einen Sohn der Stadt. Aus seiner Feder stammt unter anderem der weltbekannte Antikriegsroman "Im Westen nichts Neues". Den mit 5.000 Euro dotieren Sonderpreis erhält in diesem Jahr der Verein "Pulse of Europe", und zwar, wie die Jury fand, für sein Eintreten für ein Europa, "in dem die Achtung der Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit, freiheitliches Denken und Handeln, Toleranz und Respekt selbstverständliche Grundlage des Gemeinwesens sind."