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Religionen aus aller Welt miteinander in Berlin

12. September 2023

Der Ukraine-Krieg beschäftigt die Politik - und die Religionen. In Berlin prägte er das große Friedenstreffen der katholischen Gemeinschaft Sant'Egidio mit Repräsentanten aus dutzenden Religionen.

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Berlin | Abschluss des Friedenstreffs der katholischen Gemeinschaft Sant'Egidio
Gläubige am Brandenburger Tor: Abschluss des Friedenstreffs der katholischen Gemeinschaft Sant'EgidioBild: Christian Ditsch/epd/IMAGO

Man trägt bunt. Rote, violette und weiße Scheitelkäppchen, graue und schwarze Turbane, große Kappen mit zwölf koptischen Kreuzen. Auch mal farbenfrohe Gewänder in Gelb oder Orange, lange Bärte. Auf dem Pariser Platz in Berlin (siehe das Titelfoto) versammeln sich am Abend des 12. September die Religionen der Welt. Christen, Juden und Muslime, Hindus, Buddhisten, Shintoisten, Sikhs, Zen-Buddhisten und Zoroastrier, einer kleinen, an Zarathustra ausgerichteten Glaubensrichtung aus dem heutigen Nordostiran. An die 40 Bekenntnisse, zumeist sind sie von Männern vertreten. Ein fremdes, farbenfrohes Bild zwischen Ernst und Heiterkeit.

Die Kundgebung bildet den Abschluss eines dreitägigen Friedenstreffens der katholischen Gemeinschaft Sant'Egidio in der deutschen Hauptstadt. Als die Entscheidung für Berlin fiel, ging es um die Symbolik des Zusammenbruchs der Mauer, um das Zusammenleben in Europa seit 1989. "Es ist für mich sehr bewegend, heute das Wort an diesem Ort zu ergreifen, an dem die Geschichte - im Guten wie im Schlechten - so viel zu sagen hat...", so leitet Marco Impagliazzo, seit 2003 Präsident der Gemeinschaft, seine Begrüßung ein. Heute ist Berlin die Stadt, in der mehr ukrainische Flüchtlinge wohnen als irgendwo sonst in Westeuropa. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist von hier keine tausend Kilometer entfernt.

Friedensvermittler in schwierigsten Konflikten

Die Gemeinschaft Sant'Egidio entstand 1968 in Rom. Was als Idee von ein paar jungen Leuten im römischen Stadtteil Trastevere begann, hat heute nach eigenen Angaben gut 60.000 Mitglieder in mehr als 70 Ländern. Es ist eine katholische Friedensbewegung mit dem Anspruch politischer Vermittlungsarbeit auch in schwierigsten Konflikten. Größter Erfolg war das 1992 erreichte Friedensabkommen für Mosambik. In mehreren Regionen des afrikanischen Kontinents laufen stete Bemühungen um Versöhnung. Aber immer stärker wird die Bedeutung des Gesprächs der Religionen.

Bundespräsident Steinmeier steht an einem Rednerpult und spricht.
Scharfe Kritik am russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill: Bundespräsident Steinmeier sprach bei der Eröffnung des FriedenstreffensBild: Hannes P. Albert/dpa/picture alliance

Dieses 37. Friedenstreffen seit 1986 ist - wie stets - ein religiöses Treffen. Wie sehr das Thema Ukraine dominiert, zeigen die beiden großen politischen Reden dieser drei Berliner Spätsommertage. Sowohl Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als auch Bundeskanzler Olaf Scholz wenden sich an die Sant‘Egidio-Gäste. Und in beiden Reden bilden die russische Aggression und das Recht der Ukraine auf Verteidigung den Schwerpunkt. Der russische Angriff am 24. Februar 2022 habe "alles verändert", so Steinmeier am Sonntag.

Er spricht von einem "Vernichtungsfeldzug" Russlands gegen grundlegende europäische Werte, betont die Notwendigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine, die gerechtfertigt seien. Und Steinmeier wendet sich - ohne ihn direkt beim Namen zu nennen - scharf gegen den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill, der seine Putin-Nähe betont: "Wer sich im Namen der Religion auf die Seite eines aggressiven Kriegsherren stellt, der ein friedliches demokratisches Nachbarland mit Gewalt unterwerfen will, (...) verstößt fundamental gegen das Friedensgebot des Glaubens!" Orthodoxe Vertreter aus Russland sind nicht geladen zum Friedenstreffen.

Bundeskanzler Scholz bekräftigt Ukraine-Unterstützung

"Wir werden die Ukraine in ihrem Recht auf Selbstverteidigung weiter unterstützen – solange wie nötig", sagt zwei Tage später Scholz. "Frieden ohne Freiheit heißt Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit nennt man Diktat." Mal spricht er von den "imperialen, historisch verblendeten Machtfantasien des Herrschers im Kreml", mal nur vom "Agressor". Und der Kanzler reiht phasenweise Bischofsworte, Papstaussagen und ein Zitat des ägyptischen Großimams Ahmad al-Tayyeb aneinander. So sehr, dass die Moderatorin von Sant‘Egidio dem Kanzler, der seit langem keiner Kirche angehört und nicht gläubig ist, zum Abschluss ausdrücklich für sein "Zeugnis" dankt.

Deutschland Bundeskanzler Olaf Scholz und Marco Impagliazzo, Präsident der Gemeinschaft Sant’Egidio, beim Handschlag
Bundeskanzler Olaf Scholz und Marco Impagliazzo, Präsident der Gemeinschaft Sant’EgidioBild: Christian Ditsch/EPD/picture alliance

Zumindest bei der Steinmeier-Rede ging der Applaus selten über das Maß von Höflichkeit hinaus. Sant'Egidio ist eben im Kern eine römische Organisation mit großer Aufmerksamkeit für den Kurs des Papstes - und Franziskus hält sich mit Aussagen gegen Putin sehr zurück. Vielleicht typisch für die Breite der Meinungen dieser Tage: Am Montag erteilte bei einem Podium, das die schwierige Situation von Christen in Teilen des Nahen Ostens in den Blick nahm, der Moderator durchaus überraschend dem russisch-orthodoxen Erzbischof Tikhon, der die Berliner Diözese leitet und im Publikum saß, das Wort. Und ohne jede Gegenrede beklagte er die "Verfolgung aus Glaubensgründen" für die russische Orthodoxie in der Ukraine. Kein Wort gab es von ihm zur Zerstörung ukrainischer Kirchen, zum Leid der ukrainischen Gläubigen.

Schließlich: Einer der prominentesten Kardinäle in Berlin war der Vorsitzende der Italienischen Bischofskonferenz, Bolognas Erzbischof Matteo Maria Zuppi. Er ist der Sondergesandte des Papstes für eine Friedensmission im Ukraine-Krieg. In Berlin hielt sich früh das Gerücht, dass Zuppi nach Peking weiterfliegen wollte, um mit der chinesischen Führung über den Friedenswunsch des Papstes zu sprechen. Am Dienstagaabend bestätigte der Vatikan diese Peking-Reise offiziell.

Vorwurf der Doppelmoral an den Westen

Das spontan eingebaute Grußwort von Tikhon ist auch deshalb ungewöhnlich, weil bei Sant'Egidio-Treffen wenig spontan läuft und die Rednerlisten oft sehr gesetzt wirken. Bei einem - um ein Beispiel zu nennen - Podium über den Dialog der Religionen als "Ressource für den globalen Frieden" sprach zunächst der italienische Außenminister gut 25 Minuten.

Danach trugen, umrahmt von einer eher länglich ausgeführten Moderation, fünf Repräsentanten und eine Repräsentantin Statements vor, jeweils zehn Minuten oder länger. Als da ein führender schiitischer Geistlicher einen "Konflikt zwischen einigen westlichen Werten und grundlegenden menschlichen Instinkten" beklagte und es als "Doppelmoral" bewertete, dass das Verbrennen einer LGBTQ-Flagge als "Hassverbrechen", das Verbrennen eines Koran hingegen als Ausdruck von "Meinungsfreiheit" gelte, schaltete sich niemand ein.

Gebanntes Zuhören bei junger Afghanin

Die jährlich stattfindenden Sant'Egidio-Friedenstreffen haben traditionell feste Formen und sind geprägt von der italienischen Organisation und ihrer männlichen Gründergeneration. Dabei zeigen gerade die drei Tage von Berlin, dass es auch anders geht, weniger sprechblasig-akademisch, mehr lebensnah-spannend. Rund tausend Berliner Schülerinnen und Schüler verfolgten laut Sant'Egidio Teile des Programms. Bei einem Forum für junge Leute stand neben einer Friedensaktivistin aus der Ukraine und einem Geistlichen, der sich in Mexiko um schutzlose Migranten kümmert, Zohra Sarabi Rede und Antwort.

Die Afghanin Zohra Sarabi (19)
Zohra Sarabi (19) wuchs in Kabul auf, entkam den Taliban und studiert heute in ItalienBild: Christoph Strack/DW

Die 19-jährige Afghanin, die nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban 2021 ihre Heimat durch einen humanitären Korridor von Sant‘Egidio verlassen konnte, lebt heute in Rom und studiert. "Die Freiheit ist alles", sagt sie. Und: "Die Menschen in Europa denken, wir wollten eine bessere Zukunft. Aber wir wollen nur eine Zukunft. In Afghanistan gibt es keine." Spürbarer Schmerz bei der Erinnerung an Freundinnen in der früheren Heimat, an Verwandte. Knapp zwei Stunden lang Fragen und Antworten. Gebanntes Zuhören, mal donnernder Applaus im überfüllten Saal, mal leise Anteilnahme. 

Berufung auf Berliner Mauerfall

Immerhin. Sant'Egidio gelingt es in bemerkenswerter Weise, Jahr für Jahr prominente Religionsvertreter aus aller Welt zusammenzuführen. Sant‘Egidio-Chef Impagliazzo bilanziert bei der Schlusskundgebung in Berlin unter Berufung auf das Bild vom Mauerfall: "Genau hier ist eine weitere Mauer gefallen. (…) Die Religionen haben trotz ihrer Verschiedenheit gelernt, zu koexistieren, sich zu ergänzen und zu unterstützen, sich nicht mehr zu bekämpfen, sich nicht als Konkurrenten zu sehen, sondern miteinander und nebeneinander zu stehen. (…) Heute sprechen wir die gleiche Sprache, die Sprache des Friedens!"

Und sie klatschen alle, Christen, Juden und Muslime, Hindus, Buddhisten, Shintoisten, Sikhs, Zoroastrier. Religionen in Berlin, um den Frieden zu wagen. Sie unterzeichnen einen Friedensappell: Frieden bedeutet nicht, sich mit der Ungerechtigkeit abzufinden, heißt es da. "Kein Krieg ist ewig!" Und im Abendwind vor dem Brandenburger Tor flackern Kerzen.