Christoph Ransmayrs Roman "Cox oder der Lauf der Zeit"
15. November 2016Schon mehr als zwei Monate vor Erscheinen des Romans pries der Literaturchef der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) den Roman als "zeitlose Weltliteratur". Kein Wunder, dass der Fischer-Verlag seit Erscheinen von "Cox oder Der Lauf der Zeit" Ende Oktober mit einem FAZ-Slogan wirbt: "Was für eine Kunst! Weltliteratur".
Das Buch erschien erst nach der Frankfurter Buchmesse, dem wichtigsten Treff der Literaturszene. Verlag und Autor wollten offenbar den Rummel um den Deutschen Buchpreis umgehen. Der Buchpreis wurde am 17. Oktober verliehen, genau zehn Tage später kam Ransmayrs Roman offiziell in die Läden.
Christoph Ransmayr beim Literaturfest München
Der österreichische Schriftsteller, Jahrgang 1954, tourt seither durch die Republik und stellt das Buch vor, jetzt auch beim Literaturfest München (15.11.). Die FAZ legte am Erstverkaufstag von "Cox" noch einmal nach: "Heute erscheint der schönste deutschsprachige Roman dieses Herbstes".
Der schönste deutschsprachige Roman? Warum wurde der dann nicht eingereicht beim Buchpreis? Schließlich ist Christoph Ransmayr einer der anerkanntesten und profiliertesten Autoren der neueren deutschsprachigen Literatur. Darüber lässt sich rätseln. Eine nahe liegende Erklärung: Verlage und Autoren sind bemüht, ihr literarisches Pulver nicht zu verschießen und so einen möglichen Verlust an Ansehen - was die Nichtberücksichtigung auf der Long- und Shortlist ja bedeutet - zu vermeiden.
Viele, darunter auch gute Romane, gehen aufgrund der starken Fokussierung auf den Deutschen Buchpreis im Umfeld der Buchmesse regelrecht unter. Jeder Verlag hat das Recht, ein Produkt möglichst verkaufsfördernd an die Leser zu bringen. Zumal wenn ein großes deutsches Blatt schon im Vorfeld enthusiastisch berichtet.
Es geht auch um eine Profilierung der Literaturkritik
Dass die Latte der Kritik von einer großen deutschen Tageszeitung schon über zwei Monate vor Erscheinen des Buches so hochgelegt wird, ist aber fragwürdig. Kein Leser und auch die meisten professionellen Kritiker können das Urteil des Kollegen nicht überprüfen. So ist zu vermuten, dass solch ein Urteil vor allem zur Profilierung dient. Pikant an der Sache: Über die Auflösungen literaturkritischer Kriterien hatte sich der Feuilleton-Chef ebenjener großen Frankfurter Zeitung vor kurzem noch ganz zu Recht beschwert.
Zurück zum Roman: Christoph Ransmayr ist zweifellos ein großartiger Schriftsteller. Romane wie "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" (1984), "Die letzte Welt" (1988) und "Morbus Kitahara" (1995), haben viele Leser gefunden und wurden, wie auch die anderen Bücher des Autors, mit wichtigen Preisen ausgezeichnet. Ransmayr ist ein Sprachkünstler von hohen Graden, ein Perfektionist und eleganter Stilist. Jeder seiner (durchaus verschiedenen) Prosatexte nimmt seine Leser mit auf eine literarische Reise, die unvergleichlich ist.
Christoph Ransmayr: Stilistisch ausgefeilt
Auch "Cox oder Der Lauf der Zeit" ist ein Buch, das formal und inhaltlich etwas ganz besonderes bietet. Ransmayr erzählt von der (fiktiven) Reise eines englischen Uhrmachers zum Hof des chinesischen Kaisers Mitte des 18. Jahrhunderts. Alister Cox, wie der Protagonist im Buch in Anlehnung an den realen James Cox heißt, hat den Auftrag, dem chinesischen Kaiser Quiánlóng verschiedene schmuckvolle wie einzigartige Uhren zu konstruieren. Cox reist also nach China, begleitet von drei versierten Handwerkern aus seiner englischen Heimat. Meister Cox geht es bei der Reise, so der psychologische Subtext des Romans, auch darum, sein privates Schicksal zu bewältigen. Seine fünfjährige Tochter ist vor kurzem verstorben, seine Frau seither in der Depression verstummt. Die Reise nach China ist also auch eine Form von Trauerarbeit.
Am Hof des Kaisers angelangt, treffen die vier britischen Uhrmacher auf eine unfassbar prunkvolle kaiserliche Umgebung, werden von dem ihnen zur Seite gestellten persönlichen Übersetzter und Begleiter Kiang mit allen Details im Umgang mit dem kaiserlichen Hof vertraut gemacht. Zu einer persönlichen Begegnung mit dem Herrscher kommt es erst spät.
Ransmayr hat mit "Cox oder Der Lauf der Zeit" wieder einen Text geschrieben, der in allererster Linie ein Sprachkunstwerk ist.
Eindrücklich beschreibt Ransmayr die schier unermessliche Machtfülle des Kaisers, die ständige Angst seiner Untertanen, das streng hierarchisch geordnete System am Hof. Wer Parallelen zu heutigen Machtsystemen herstellen will, der kann das durchaus tun.
Vor allem aber ist "Cox" ein Roman immer wiederkehrender Beschreibungen. Lange Satzkaskaden ergießen sich über den Leser. Ransmayr stellt Pracht und Fülle des kaiserlichen Hofes ebenso ausführlich dar wie Materialien und Dekors der zu konstruierenden Uhren.
Das muss man als Leser mögen. Einige Rezensenten lobten Ransmayr gerade deswegen überschwänglich. So schrieb der Kritiker der anderen großen überregionalen deutschen Tageszeitung: "Er (der Leser, Anmerk. der Red.) versteht, dass die Muße, die Aufmerksamkeit und die Präzision, die Alister Cox seinen Uhren oder die der Kaiser seinem Reich zuwendet, aufgehoben sind in seinem System, das alle anderen Systeme transzendiert. Diese Ordnung ist die Sprache. Sie ist das Schönste an diesem Buch." (Süddeutsche Zeitung)
Die Charaktere verschwinden hinter der Sprachkunst
Es kann dem Leser der 300 Seiten aber auch anders ergehen. Er kann die Sprach-Kunst bewundern, und doch vom Roman irritiert sein. Die literarischen Charaktere verschwinden hinter den Wort- und Satzreihen. Sie bleiben Kunstgeschöpfe. Manch einem Leser dürfte es bei "Cox" so gehen wie in einer reich verzierten Rokoko-Kirche oder beim Betrachten eines späten Fellini-Films. Man ist entzückt über all die Pracht, die Phantasie der Künstler und Handwerker, über die schiere Fülle der Verzierungen.
Doch irgendwann sehnt man sich nach schlichter Klarheit, nach den strengen architektonischen Regeln romanischer Baukunst oder dem zurückgenommenen Regiestil eines Robert Bresson oder Ozu Yasujirō - um nur zwei Vergleiche aus anderen Kunstsparten zu nennen.
Wahrscheinlich ist das Geschmacksache eines jeden einzelnen Lesers. Doch eines steht fest: Um den "schönsten Roman des deutschen Bücherherbstes" handelt es sich hier nur, wenn man diese Art von Literatur als Nonplusultra betrachtet.
Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit, Fischer Verlag, 304 Seiten, ISBN 978-3-10-0829511. Christoph Ransmayr stellt seinen Roman am 15.11. beim Literaturfest in München vor.