"45 Grad, kein Wasser"
14. August 2014DW: Herr Reimon, im Sindschar-Gebirge harren noch immer zahlreiche Jesiden aus, die vor den Milizen des "Islamischen Staates" (IS) geflohen sind. Welche Situation haben Sie dort vorgefunden?
Michel Reimon: Sie müssen sich vorstellen, das ist ein Wüstenberg, auf dem Tausende Menschen sitzen. Es ist 45 Grad heiß, es gibt keine Quelle, keinen Schatten, die Menschen verdursten. Man fliegt mit den Helikoptern dorthin, wirft aus der Luft Wasser ab, dann setzen die Helikopter kurz auf dem Boden auf und es strömen Hunderte, Tausende Menschen auf einen zu.
Sie versuchen hineinzugelangen, um ausgeflogen zu werden, und die Soldaten bemühen sich, vor allem Kinder und Frauen aufzunehmen und Männer daran zu hindern, den Helikopter zu kapern. Das sieht man auch auf dem Video, das ich dort gedreht habe. Es ist hochdramatisch, weil die Menschen alle in Panik sind, Angst haben, auf diesem Berg zu verdursten, und dieser Helikopter ist die einzige Rettungschance.
Man kann wirklich nur wenige Sekunden stehen bleiben, die Soldaten stehen an der Tür und versuchen irgendwie, die Lage zu kontrollieren. Ich war mit zwei anderen Personen in der zweiten Reihe und habe versucht, die Kinder immer weiter reinzuziehen. Aber dann hebt man wieder ab, die Leute hängen noch halb in der Tür und halb draußen, und man versucht irgendwie, sie noch reinzukriegen, und dann fliegt man los. Vor ein paar Tagen war ein Hubschrauber so überladen, dass er abgestürzt ist - der Pilot ist am Dienstag gestorben, die Soldaten an Bord sind alle schwer verletzt worden.
Die USA hatten ja eigentlich eine groß angelegte Rettungsaktion in der Region angekündigt. Jetzt ist das Pentagon aber offenbar zurückgerudert - mit der Begründung, die Lage im Sindschar-Gebirge sei doch nicht so dramatisch wie befürchtet. Wie bewerten Sie diese Einschätzung nach Ihrem Besuch?
Ich glaube, man muss sich nur mein Video anschauen, dann kann sich jeder selbst ein Bild davon machen, wie dramatisch die Situation für die Menschen dort ist. Da muss man dann nicht mit Zahlentricks argumentieren. Tatsache ist, dass es den kurdischen Kämpfern nachts gelingt, Menschen vom Berg zu retten - es sind also tatsächlich immer weniger Flüchtlinge dort, und das ist eine gute Nachricht. Aber es sind immer noch Tausende da, und das würde eine Rettungsaktion durchaus rechtfertigen. Nötig wären aber auch mehr Helikopter, um Wasser dorthin zu bringen - das würde den Menschen dort helfen, einige Tage länger zu überleben.
Im Westen wird heftig diskutiert, ob man den Kurden im Nordirak Waffen liefern soll. Frankreich will das jetzt tun. Nachdem Sie vor Ort waren: Glauben Sie, dass es das ist, was im Nordirak am Dringendsten gebraucht wird?
Am Nötigsten ist natürlich erst mal humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge. Bei den Waffenlieferungen tue ich mich etwas schwer als Politiker eines neutralen Landes wie Österreich. Es gibt bei uns ein Waffenexportverbot, und wenn wir es nicht dürfen, ist es schwierig, das anderen Ländern zu empfehlen. Ich kann nur berichten, dass die Bevölkerung vor Ort Angst hat und sich verteidigen will gegen die überlegenen Fundamentalisten. Der Wunsch, von außen Waffen zu bekommen, ist dort ziemlich einhellig.
Tut denn der Westen genug, was humanitäre Hilfen angeht?
Wenn man sich die katastrophale Lage anschaut, ist das sicherlich viel zu wenig. Die Region hatte schon 400.000 Flüchtlinge unterzubringen, bevor diese neue Situation eingetreten ist. Ich habe interne Berichte von Hilfsorganisationen eingesehen, die täglich je nach Kampflage 12.000 bis 60.000 neue Flüchtlinge zu betreuen haben: Das heißt, das Problem verschärft sich von Tag zu Tag. Und der Westen muss mehr liefern.
Das Interview führte Jeanette Seiffert.
Michel Reimon sitzt seit Anfang Juli 2014 für die österreichischen Grünen im Europaparlament. Er gehört dort der Delegation für die Beziehungen zum Irak an. Seine Erfahrungen als Europapolitiker und seine Reisen dokumentiert er auf seinem Blog unter www.reimon.net.