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Reifenabrieb: großes Problem - viele kleine Lösungen

Lisa Stüve
16. Oktober 2023

Durch Reifenabrieb werden jedes Jahr tausende Tonnen Mikroplastik freigesetzt. Einen Reifen ohne Abrieb wird es zwar so schnell nicht geben. Dafür aber Lösungen, die den Abrieb verringern.

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Autoreifen auf einer Automesse
Ohne Reifen geht es nicht - aber auch ohne Abrieb? Bild: Sven Hoppe/dpa/picture alliance

Eine Kreuzung mitten in Berlin. Die Ampel springt auf Grün, in den eben noch wartenden Autos wird Gas gegeben, beschleunigt - dann rollen die Reifen über den Asphalt. Fast unbemerkt verbleibt ein Gemisch aus Kunststoffpartikeln, Additiven und Straßenbelag auf der Fahrbahn und in der Luft - der Reifenabrieb. 110.000 Tonnen jährlich fallen alleine in Deutschland an. Beim nächsten Regen wird das, was der Wind noch nicht aufgewirbelt und weggetragen hat, in den nächsten Gully geschwemmt. Von dort gelangen die Partikel über Umwege in Flüsse, Böden und die Meere.

In Berlin sind insgesamt 1,24 Millionen Pkw zugelassen, die Anzahl ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Auch wenn immer mehr elektrisch betriebene Autos dazu kommen - in Berlin sind es über 24.000 - wird das Problem des Reifenabriebs dadurch nicht kleiner. Da E-Autos meist schwerer sind, produzieren sie auch mehr Abrieb.

Hunderttausende Tonnen Mikroplastik aus Reifenabrieb

Das Unternehmen Emission Analytics misst vor allem eins: Schadstoffe. "Jedes Jahr wird die Menge, die aus dem Auspuff kommt, kleiner und kleiner, und die Menge, die aus den Reifen kommt, nimmt zu, weil die Fahrzeuge immer schwerer werden", erklärt Nick Molden, Gründer von Emission Analytics der DW im Interview (auf Englisch).

Filter mit Reifenabrieb aus einer Versuchsanordnung des britischen Start-ups Tyre Collective
Reifenabrieb aus einer Versuchsanordnung des britischen Start-ups Tyre CollectiveBild: Tyre Collective

500.000 Tonnen Mikroplastik gelangen jedes Jahr durch Reifenabrieb in die Umwelt, weltweit wird die Zahl auf 6,1 Millionen Tonnen geschätzt. Bei jedem Bremsen, Beschleunigen und Fahren verliert ein Reifen Substanz, um ganze vier Kilogramm Mikroplastik ist er leichter am Ende seines "Lebens". Was also tun?

"Es ist eher nicht so, dass man versucht, das kleinzureden oder kleinzuhalten. Das Thema ist da und es ist auch klar, dass der Abrieb unvermeidbar ist. Mittlerweile ist auch allen klar, dass man das nicht allein lösen kann", sagt Daniel Venghaus. Der Wissenschaftler der Technischen Universität (TU) Berlin ist mit dem Projekt Urbanfilter einer von vielen, die den Abrieb verringern wollen. Nur in enger Zusammenarbeit lasse sich das Problem bewältigen, erklärt Venghaus, neben Wissenschaft und Forschung sei die Industrie in der Pflicht, den Abrieb zu verringern.

Eine wichtige Rolle spielen darüber hinaus Wasser- und Stadtwerke sowie Straßen- und Verkehrsplaner und letztendlich kann auch der Kunde etwas tun, indem er defensiver fährt oder gar anstelle des Autos Bus oder Bahn nutzt.

Einen Reifen ohne Abrieb wird es vorerst nicht geben

Der Reifenhersteller Michelin geht das Problem durch die Entwicklung besonders langlebiger Reifen an. Der Reifenabrieb konnte im Durchschnitt um fünf Prozent reduziert werden, erklärt Cyrille Roget im Interview mit der DW - er ist Scientific & Communication Director bei Michelin. "Aber wir wissen bis heute nicht, wie wir einen Reifen herstellen können, der sicher ist und auf der Straße hält und gleichzeitig keine Partikel-Emissionen verursacht." Aktuell gehe es darum, erneuerbare oder gar recycelte Materialen als Ersatz für chemische Zusätze im Reifen zu finden.

Autoreifen
Wenn der Reifen kein Profil mehr hat: Der Abrieb landet in der UmweltBild: PantherMedia/picture alliance

Ein Autoreifen besteht aus synthetischem Gummi, Füllmitteln und chemischen Zusatzstoffen. Das Additive 6PPD etwa sorgt für mehr Sicherheit. Wird der Reifenabrieb in die Flüsse gespült, oxidiert er und ist für Silberlachse hochgiftig. 6PPD reichert sich außerdem in Salatblättern an. Das konnten Forscher der Universität Wien in einem Laborversuch beweisen, die Ergebnisse wurden 2023 im Fachblatt Environmental Science & Technology veröffentlicht. Dass Salat auch im Freiland giftige Stoffe aufnimmt, zeigen die Stichproben des Schweizer Verbrauchermagazins K-Tipp. Salat und Lachse sind nur zwei Beispiele, wie Reifenpartikel direkt in die Nahrungskette gelangen können.

Dass schnell eine Alternative zu 6PPD gefunden werde, davon geht Cyrielle Roget nicht aus. "Die Erforschung kostet viel Zeit, denn bevor ein Material ersetzt wird, muss sichergestellt werden, dass das neue Material weder hochgiftig für andere Arten ist oder die Sicherheit des Reifens mindert", so Roget.

Filtersysteme, umweltfreundliche Autos und EU-Regulierungen

Bis also der Reifen ohne Abrieb hergestellt wird, müssen andere Lösungen dafür sorgen, das Problem so gut es geht abzumildern. In Wissenschaft und Forschung reichen diese von schnellen und praktikablen bis hin zu weniger umsetzungstauglichen Ideen. So wird der Prototyp Zero Emission Drive Unit Generation 1 mit geschlossenem Radkasten des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR) vielleicht erst in ein paar Jahren gebaut, auch wenn es eine fast vollständig schadstofffreie Mobilität ermöglichen würde. Das liege aber nicht am mangelnden Interesse, so DLR-Projektleiter Franz Philipps, sondern vielmehr an den noch fehlenden Grenzwerten für Reifenabrieb in der EU.

Auf dem Prüfstand: Das Null-Emissions-Auto ZEDU-1 vom DLR
Auf dem Prüfstand: Das Null-Emissions-Auto ZEDU-1 vom DLR Bild: DLR

Das Londoner Start-up Tyre Collectives hat sich zum Ziel gesetzt, Reifenpartikel an der Quelle aufzufangen. Die Vorrichtung wird direkt an der Reifenkante angebracht. Auf der Website berichtet Tyre Collective, dass das Model erstmals 2021 in einem Piloten getestet werden konnte. Wir realistisch ein großflächiger Einsatz ist, bleibt abzuwarten.

Daniel Venghaus versucht das Problem in einem gemeinsamen Projekt mit der Audi-Umweltstiftung im Bereich Abwasser in den Griff zu bekommen, besser gesagt in den Straßengullys. Dafür wurden mehrere Filtervarianten getestet und entwickelt. Diese werden an Abrieb-Hotspots - das sind innerstädtische Kreuzungen und Kurven - in die Gullys eingebaut.

Bis zu 66 Prozent der besonders feinen Partikel und 97 Prozent der gesamten Verschmutzung können so herausgefiltert werden, das wurde in Modellversuchen gezeigt. Im Freilandversuch halten die am Gully befestigten Filter dreimal so viel Schlamm zurück. Das Projekt läuft bis Juli 2024. Das Wasser will Venghaus aber weiterhin sauber halten, geplant ist deshalb eine gemeinnützig wirtschaftende Firma für Filtersysteme. Einige Kommunen hätten schon Interesse bekundet, so Venghaus.

Absaugvorrichtung des Start-ups Tyre Collective an einem Fahrzeug
Absaugvorrichtung des Start-ups Tyre Collective an einem FahrzeugBild: Tyre Collective

Die radikalste aller Lösungen

"Filtersysteme", sagt Thilo Hofmann von der Universität Wien, "sind die einfachste Lösung für die Industrie, am Ende zahlen die Kommunen und respektive der Steuerzahler. Was wir wirklich ganz dringend brauchen, sind grüne Alternativen bei den Plastikadditiven, die nicht toxisch sind." Hofmann ist der Leiter der Wiener Studie zu den Auswirkungen von Reifenabrieb auf Salat.

Über die toxische Wirkung von Reifenabrieb wird gerade auch verstärkt in Brüssel diskutiert. Die Europäische Union will mit der Euro 7 Norm erstmals Grenzwerte für den Reifenabrieb festlegen. Wie die genau aussehen sollen, wird noch diskutiert. Dazu braucht es außerdem erstmals ein standardisiertes Verfahren, um den Abrieb zu messen. Die Reifenhersteller haben auf internationaler Ebene eine Methode dafür entwickelt.

Und dann ist da noch die politisch ungemütlichste Art und Weise, den Reifenabrieb zu verringern, sagt Thilo Hofmann am Ende des Gesprächs. Diese Lösung würde beim Individualverkehr ansetzen. Dieser müsse eigentlich drastisch reduziert werden. Einfache Logik: Ein Reifen, der nicht rollt, erzeugt auch keinen Abrieb.