Regierungskrise in Berlin: CSU gegen Merkel
14. Juni 2018Ausnahmezustand im Bundestag: Die Sitzung wird unterbrochen, erst für zwei, dann für vier Stunden. Denn die größte Fraktion, CDU und CSU, trifft sich zu einer Sondersitzung. Schon das ist ungewöhnlich. Aber noch ungewöhnlicher ist, dass sich zwei Schwesterparteien zu getrennten Sitzungen treffen. Das gab es zuletzt Ende der 1990er-Jahre, berichten ältere Hauptstadt-Journalisten.
Auf der Fraktionsebene im Reichstag herrscht helle Aufregung. Rund 100 Journalisten tuscheln, twittern und fabulieren, was das Zeug hält. Bundestagsabgeordnete kommen vorbei, um die Journalisten zu fragen, was los ist. Das Catering ist zunächst überfordert, weil der Termin nicht angekündigt war. So dass Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier kein Würstchen bekommt und deshalb hungrig zurück in den Fraktionssaal geht. Fast eine lustige Szene, wenn es nicht so ernst wäre, was hinter den Türen vor sich geht.
Nach nicht einmal 100 Tagen im Amt erlebt Berlin eine echte Regierungskrise. Es geht um das Thema Flüchtlingspolitik. Nicht die eigentlichen politischen Gegner streiten - die Christdemokraten (CDU) unter Angela Merkel und die Sozialdemokraten (SPD) - sondern die CDU und ihr bayerischer Ableger, die Christsozialen (CSU).
Alter Streitpunkt Flüchtlingspolitik
Der Streit ist nicht neu. Seit der Flüchtlingskrise 2015 will die CSU, allen voran Partei-Chef Horst Seehofer, das Problem europäischer Migrationsströme schnell und deshalb national lösen. Merkel aber will eine EU-weite Lösung - mit einer Verteilungsquote für Flüchtlinge und sicheren Außengrenzen. Sie kommt damit aber nicht wirklich voran. Vor allem die Osteuropäer sperren sich gegen zugeteilte Flüchtlinge.
Schon häufiger hat die CSU deshalb die Geduld verloren und als ungekürte "Drama-Queen" unter den deutschen Parteien zu allerlei öffentlichen Unmutsäußerungen gegriffen. Mal wurde Merkel auf offener Bühne von Seehofer wie ein Schulmädchen heruntergeputzt. Mal sprach er von einer "Herrschaft des Unrechts". Doch dem Theaterdonner folgte - bislang - immer eine Versöhnung.
Umstrittener Masterplan der CSU
Nun ist Seehofer Bundesinnenminister und damit auch zuständig für die Flüchtlingspolitik. Vor rund zwei Wochen kündigte die CSU einen Masterplan an, um die "Systemkrise" bei Flüchtlingen und Migranten zu überwinden. Einer der 63 Punkte darin lautet: Asylbewerber, die schon in anderen EU-Staaten registriert sind, sollen an der deutschen Grenze abgewiesen werden.
Das passt Merkel überhaupt nicht. Denn Kern ihrer Flüchtlingspolitik ist, dass genau das nicht passiert. Der damalige Innenminister hat auf Merkels Geheiß hin 2015 die Regel ausgesetzt, die Seehofer jetzt wieder einsetzen will. Also Flüchtlinge nicht ins Land zu lassen, wenn sie schon in Italien oder Griechenland waren. So wie es das europäische Recht - Stichwort Dublin-Abkommen - eigentlich auch vorsieht.
Dramatische Stunden
Überraschend solidarisierte sich am Dienstag, verschiedenen Quellen zufolge, die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU in der üblichen Fraktionssitzung mit Seehofer. Einige von ihnen brachten - siegesgewiss - sogar eine Kampfabstimmung ins Gespräch.
Ein eilig einberufener Krisengipfel am Mittwoch im Kanzleramt, der eigentlich auch geheim gehalten werden sollte, brachte keine Lösung. Immerhin gab es einen Kompromissvorschlag: Merkel brachte bilaterale Abkommen ins Gespräch und verwies auf den kommenden EU-Gipfel Ende Juni, der das Thema Flüchtlingspolitik auf der Agenda hat. Sie will sich so auch Zeit kaufen.
Verhärtete Fronten zwischen CDU und CSU
Die CSU bleibe in der Sache hart, hieß es nun nach der Sonder-Fraktionssitzung am Donnerstag. Seehofers Plan müsse umgesetzt werden, da seien sich alle einig. Denn schließlich sei keine Zeit mehr angesichts der fast täglichen Meldungen über Flüchtlingskriminalität und der schlechten Stimmung in der Bevölkerung, hieß es von Teilnehmern. Für die Politik sei die Grenze der Glaubwürdigkeit erreicht.
Die Situation sei "sehr ernst, sogar historisch", sagte ein äußerst selbstbewusst auftretender Alexander Dobrindt. Er ist Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag. Es gehe jetzt um "Haltung und Handlung und eine Zukunftsfrage für das Land". Sollte der EU-Gipfel "wirkungsgleiche Beschlüsse" bringen, so Dobrindt, könnten die dann Maßnahmen aus dem Masterplan ersetzen. Vor einigen Monaten hatte der ehrgeizige 48-Jährige mit einem Manifest für eine "Konservative Revolution" Schlagzeilen gemacht. Was schon damals als ein Affront gegen Merkel gewertet wurde.
Die Sache könnte eskalieren
Was die CSU will, darüber gibt es geteilte Meinungen. Hat sie auch einen Masterplan für den Sturz der Kanzlerin? Passiert alles nur deshalb, weil es im Herbst Landtagswahlen in Bayern geben wird, und die CSU laut Umfragen von den Rechtspopulisten von der "Alternative für Deutschland" (AfD) bedrängt wird? Geht es vielleicht nur darum, in der EU Druck aufzubauen, dass sich alle endlich auf Maßnahmen in der Flüchtlingspolitik einigen?
Niemand lässt sich momentan in die Karten schauen. Nur der Plan für eine weitere Eskalation zeichnet sich schon ab. Am Montag wollen sich die CSU-Bundestagsabgeordneten in Bayern Rückendeckung von ihrem Parteivorstand holen, um dann gleich im Anschluss noch einmal zu beraten. Seehofer könnte, so heißt es, Teile seines Masterplans auch ohne Zustimmung von der CDU oder Merkel durchsetzen. So viel Macht habe er als Minister schließlich.
Doch wenn er das gegen den Willen der Kanzlerin tut, müsste sie ihn eigentlich entlassen. Woraufhin dann wohl die CSU die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag auflösen würde. Müsste Merkel dann den Bundestag fragen, ob sie noch das Vertrauen genießt? Oder würde sie dann selbst zurücktreten? Nur, auf Anhieb kann derzeit niemand im politischen Berlin jemanden benennen, der ihr dann folgen könnte.
Schwindet Merkels Machtbasis auch in der eigenen Partei?
Auffällig war, dass nach der Sondersitzung niemand von der CDU vor die Kameras treten wollte. Es gab allein Informationen; niemand wollte zitiert werden. Berichtet wurde von 50 Wortmeldungen, mehrheitlich pro Merkel, nur eine Handvoll pro CSU.
Die Abgeordneten sind mit Merkels Vorschlag, erst einmal zwei Wochen zu warten, einverstanden und stehen hinter ihrer Kanzlerin, so lautete die Botschaft. Doch wie der Stimmungsumschwung innerhalb von zwei Tagen zu erklären sei, blieb im Ungefähren. Ob beide Parteien in den nächsten Tagen weiter miteinander verhandeln, blieb unbeantwortet.
Auch vom Präsidium ihrer Partei gab es am Donnerstag Unterstützung für Merkel. Wie auch von wichtigen Landesverbänden im Westen. Aus dem Osten, dort wo die AfD besonders stark ist, gab es dagegen Unterstützung für Seehofer. Merkel hat schon viele Krisen überlebt, sie ist seit 2005 im Amt. Aber irgendwann ist für jeden einmal Schluss. Dass das auch vorzeitig passieren könnte, ist in Berlin nun in den Bereich des Möglichen gerückt.