Regierung Modi verstärkt Zugriff auf Kaschmir
30. Oktober 2019Indiens Premier Narendra Modi hatte Anfang August den Sonderstatus des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir (J&K) beendet. Dessen begrenzte Autonomie samt eigener Verfassung wurde abgeschafft, ebenso wie die Sonderrechte für ständige Einwohner des Bundesstaates, die mehrheitlich muslimisch sind. Außerdem wurde J&K per Beschluss des Parlaments in Delhi in zwei neugeschaffene Unionsterritorien unter Direktverwaltung Neu-Delhis aufgespalten, nämlich in J&K und in Ladakh.
Nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 wurden J&K Sonderrechte darunter eine eigene Verfassung eingeräumt. Trotzdem entstand seit 1989 eine von Pakistan unterstützte Aufstandsbewegung, mit der Folge massiver indischer Repression und Militarisierung des öffentlichen Lebens in Kaschmir. Schätzungen der Todesopfer, mehrheitlich unter Zivilisten, aufgrund von indischen Anti-Terroroperationen und Anschlägen der Separatisten, schwanken zwischen 40.000 und 70.000. Erst Anfang der 2000er Jahre ebbte die Gewalt ab.
Zweifelhafter Schritt zur Befriedung
Sie stieg allerdings in den vergangenen Jahren wieder an, wie Südasien-Experte Christian Wagner von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erläutert: "Die Radikalisierung ist vor allem seit 2016 ein internes Phänomen in Kaschmir. Es sind vermehrt Kaschmirer aus dem indischen Teil, die sich jetzt militanten Gruppen anschließen. Daran zeigt sich das Versäumnis der indischen Regierung unter Modi, einen vernünftigen Dialog in J&K zu suchen. Jetzt versucht man es mit einer ganz harten Linie und einem radikalen Schnitt. Da wird man abwarten müssen, ob das wirklich den versprochenen Erfolg hat. Ich wäre da skeptisch."
Ministerpräsident Modi behauptet, er wolle durch die Abschaffung der Sonderrechte für J&K und durch die Direktverwaltung die Militanz austrocknen und wirtschaftlichen Aufschwung erreichen. Viele Beobachter befürchten jedoch weitere Spannungen und Konflikte durch ein Vordringen der Hindus in bislang geschützte Lebensbereiche der Muslime, die in J&K die Mehrheit stellen.
Vorteile für Hindus und Buddhisten
Die Abschaffung der Sonderrechte bedeutet unter anderem, dass alle Inder Zugang zu Jobs im Privatsektor sowie zu Hochschulplätzen in J&K haben. Diese waren bislang für Personen reserviert, die bereits vor 1954 oder mindestens zehn Jahre ständig dort lebten. Dieselbe Öffnung gilt für den Erwerb von Grund und Boden und sonstigem Eigentum durch Inder von außerhalb des Bundestaates. Auch für aus J&K stammende Frauen ändert sich die Lage: Heirateten sie jemanden von außerhalb des Bundesstaates, verloren sie alle Ansprüche auf ihr Erbe. Jetzt gibt es für solche Verbindungen keine rechtlichen Hürden mehr. Durch die geplante Neuordnung von Wahlkreisen könnte die Region um Jammu, wo mehrheitlich Hindus und Anhänger Modis wohnen, mehr Gewicht innerhalb von J&K erhalten.
Beobachter sehen in der Neuorganisation des Zuschnitts von J&K einen geschickten Schachzug Modis nach dem Motto: Teile und herrsche. Er kommt den Hindunationalisten entgegen, die seit langem eine tiefere Integration von J&K in den indischen Staat fordern. Und er sichert sich die Unterstützung der großen buddhistischen Gemeinde in Ladakh, die in der Abspaltung von J&K eine Aufwertung ihrer Region und Interessen sehen. Dies, obwohl Ladakh anders als J&K kein eigenes Parlament haben wird.
Letzteres ist allerdings nach Einschätzung von Wagner nicht mehr als ein Placebo: "Die parlamentarische Fassade wird zwar ein Stück weit gewahrt, aber man muss natürlich ganz klar sagen: Das sind längst nicht mehr die Rechte, die ein normales indisches Provinzparlament hat."
Massives Sicherheitsaufgebot
Die Entscheidung zur Neuorganisation von J&K wurde von einer Verhaftungswelle und einer teilweise bis jetzt andauernden Abschaltung von Internet- und Mobilfunkverbindungen begleitet. Tausende zusätzliche Soldaten wurden in das Gebiet entsandt, knapp 4000 Personen inhaftiert. Darunter über 200 Politiker verschiedener Parteien, auch zwei frühere Chefminister des Bundesstaates. Rund 2600 Festgenommene wurden bis Mitte September wieder freigelassen. Trotz einer teilweisen Lockerung – so dürfen Touristen wieder in das Gebiet reisen – ist das öffentliche Leben in Kaschmir eingeschränkt, aus Protest sind viele Geschäfte geschlossen, bleiben Schüler und Studenten dem Unterricht fern. In den vergangenen drei Wochen wurden vier Lastwagenfahrer, die Äpfel, ein Hauptprodukt Kaschmirs, transportierten, von Unbekannten erschossen. Am Dienstag kam es während des Besuchs von Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Srinagar zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und anti-indischen Randalierern.
Protest der Nachbarn China und Pakistan
Erwartungsgemäß hat Pakistan, das wie Indien das ganze Gebiet des ehemaligen Fürstenstaats J&K beansprucht und sich als Schutzherr der dortigen muslimischen Bevölkerung sieht, Modis Vorgehen scharf kritisiert, bis hin zu indirekten Kriegsdrohungen. Auch Peking meldete sich zu Wort. Es handele sich um "inakzeptable Schritte Indiens, um den Status quo in Kaschmir zu ändern." Und "Indiens Änderung seiner Landesgesetze beschädigt Chinas territoriale Souveränität", erklärte eine Außenamtssprecherin.
Diese Reaktion ist allerdings laut Christian Wagner nicht stimmig und wohl eher als Versuch zur Unterstützung Pakistans zu verstehen. "China hält seit dem Grenzkrieg mit Indien von 1962 das Aksai Chin Gebiet besetzt und hat 1963 von Pakistan vertraglich einen Teil Kaschmirs erhalten. Mir ist aber keine weitergehende historische Interpretation oder Forderung Chinas bekannt, aufgrund welcher diese Territorien beansprucht werden."
Kleiner diplomatischer Erfolg Pakistans
Immerhin hat Pakistan es mit Hilfe Chinas erstmals seit 1971 geschafft, dass sich der UN-Sicherheitsrat wieder mit der Kaschmir-Frage befasste. Ein diplomatischer Erfolg für Pakistan, wenn es auch nach dem Treffen am 16. August keine offizielle Erklärung gab. Der chinesische Vertreter sagte im Anschluss, die Teilnehmer des Treffens seien sich "einig, dass alle Seiten von unilateralen Maßnahmen absehen sollten, die die angespannte Lage (im indischen Teil Kaschmirs), die bereits jetzt sehr gefährlich sei, verschärfen könnte." Sein indischer Kollege wies das zurück und erklärte, Indien als Milliardenvolk brauche "keine internationalen Wichtigtuer, die ihm erklärten, wie es sein Leben zu gestalten hätte."
Beim Treffen von Xi und Modi Anfang Oktober in Südindien spielte die Kaschmir-Frage offiziell keine Rolle mehr. Laut Christian Wagner wurde damit deutlich, dass China wieder zu seiner alten Position zurückgekehrt ist, wonach die Kaschmir-Frage zwischen Indien und Pakistan bilateral gelöst werden muss.