1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Deutschland Rechtsextremismus

Marcel Fürstenau27. Juli 2012

Die Morde des Neo-Nazi-Trios NSU haben gezeigt: Die Gefahren des Rechtsextremismus wurden massiv unterschätzt. Dabei ist die Szene sehr heterogen. Eine Herausforderung für den neuen Verfassungsschutz-Chef.

https://p.dw.com/p/15fgj
Ein Rechtsextremist in Lederjacke, auf die ein Sticker genäht ist, der das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 zeigt. Mit der rechten Hand schultert der Neonazi einen Baseballschläger. (Foto: Oliver Berg / dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Im Jahr 2000 erschoss die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) in Nürnberg den türkischstämmigen Blumenhändler Enver Simsek. Es war der Beginn einer beispiellosen Mordserie. Das zehnte und letzte Opfer, die Polizistin Michèle Kiesewetter, musste 2007 in Heilbronn sterben. Aber erst im November 2011 wurde zufällig bekannt, wer hinter den Taten steckte: das von Fremdenhass erfüllte Trio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. In abscheulichen Videos prahlten sie mit der kaltblütigen Hinrichtung ihrer Opfer.

Entsetzt fragen sich Politiker und die Öffentlichkeit, warum die Mörderbande unter den Augen des Verfassungsschutzes 1998 untertauchen, zehn Menschen töten und 13 Jahre unentdeckt bleiben konnte. Das Versagen der Sicherheitsdienste ist geradezu bestürzend. Der langjährige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Heinz Fromm, zog daraus die Konsequenz und bat um Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand. Am 1. August wird er von Hans-Georg Maaßen, einem Terrorexperten aus dem Innenministerium, abgelöst.

Neonazis werden jünger und militanter

Fotos des Bundeskriminalamtes (BKA), auf denen die mutmaßlichen NSU-Mörder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe (v.l.n.r.) abgebildet sind. (Fotos: BKA / dpa)
Die bekanntesten Neonazi-Gesichter: Uwe Böhnhardt (l.) und Uwe Mundlos (M.), die sich beide das Leben genommen haben, und Beate Zschäpe (r.)Bild: picture-alliance/dpa

Im aktuellen Bericht des Verfassungsschutzes, den Fromm Mitte Juli in Berlin vorstellte, wird die Entwicklung des Rechtsextremismus unter dem Eindruck der NSU-Morde bewertet. Die nun heftig in der Kritik stehenden professionellen Beobachter der Szene beschreiben auf rund 80 Seiten eine bis in die Gegenwart reichende Entwicklung, deren Anfang sie in den 1990er Jahre sehen. "In dieser Zeit ist der Rechtsextremismus jünger, aktionistischer und militanter geworden“, heißt es.

Noch ein Jahr zuvor vermochte der Verfassungsschutz keine terroristischen Strukturen zu erkennen. Daraus den Schluss zu ziehen, die Behörde sei "auf dem rechten Auge blind", hält der zuständige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) für unzulässig. Aber auch er spricht von "Versagen“ und "verlorenem Vertrauen“; eine Reform des Dienstes hält er für unerlässlich. Dabei kann man dem Verfassungsschutz noch nicht einmal den Vorwurf machen, die Vielschichtigkeit des Rechtsextremismus übersehen zu haben. Seit vielen Jahren finden sich dazu ausführliche Schilderungen in den Berichten.

Das Gewaltpotenzial wurde unterschätzt

Allerdings haben die Experten offenkundig die Gefährlichkeit maßlos unterschätzt. Bundesinnenminister Friedrich mahnt nun zur Wachsamkeit gegenüber möglichen Nachahmungstätern, die sich von den NSU-Morden inspiriert fühlen könnten. Man arbeite international zusammen, um Gefahren besser begegnen zu können, betont Friedrich.

Ein Bildschirmfoto aus dem Bekennervideo der Mitglieder der terroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU), das auf DVD in dem explodierten Haus in Zwickau gefunden wurde, wo die Neonazis gelebt haben, zeigt die Hand der Zeichentrickfigur "Paulchen Panther" aus der Serie "Pink Panther", die eine Pistole abfeuert, während dahinter eine Filmaufnahme von Polizisten gelegt ist. (Foto: dapd)
Dokument des Verbrechens: Ein Bild aus dem NSU-Bekennervideo mit der Comicfigur Paulchen Panther.Bild: dapd

Statistisch gesehen hat sich die Gewaltbereitschaft von Rechtsextremisten kaum verändert. Die Zahl der vom Bundeskriminalamt (BKA) registrierten Körperverletzungen lag 2011 mit 640 um zwei höher als ein Jahr zuvor. Die Rubrik "Versuchte Tötungsdelikte“ listet fünf Straftaten und damit eine weniger auf als 2010. Den mit Abstand größten Anteil an allen rund 16.000 Straftaten machen mit rund 70 Prozent Propagandadelikte aus. Darunter fällt zum Beispiel das Zeigen der nationalsozialistischen Hakenkreuzfahne.

Nächtliche Fackelmärsche mit weißen Masken

Die Zahl der Rechtsextremisten schätzt der Verfassungsschutz auf rund 22.500, rund zehn Prozent weniger als 2011. Sehr unterschiedlich ist der Organisationsgrad. Am geringsten ausgeprägt ist er bei jenem Drittel, das die Experten als "subkulturell geprägt“ bezeichnen. Dieses Milieu definiert sich unter anderem über rechtsextremistische Musik, in der Juden, Ausländer oder Linke verunglimpft werden. Die regional in Erscheinung tretenden Gruppen haben in jüngster Zeit Anhänger verloren. Der Verfassungsschutz registrierte einen Rückgang von 8300 auf 7600.

Wichtigste Plattform zum Kommunizieren und Mobilisieren ist das Internet. Rechtsextremisten wie die "Unsterblichen“ nutzen das Medium verstärkt, um über lokale Grenzen hinweg Aufmerksamkeit zu erlangen. Der jetzt aus dem Amt scheidende Chef des Verfassungsschutzes, Heinz Fromm, attestiert solchen Gruppierungen professionelles Vorgehen. Er verweist auf Videos von Neonazis mit weißen Gesichtsmasken und brennenden Fackeln, die durch "geschickte Aufbereitung“ den Eindruck von Massenveranstaltungen erweckten, obwohl nur wenige Hundert beteiligt seien. Derlei unangemeldete nächtliche Veranstaltungen hat es zuletzt häufiger gegeben. Zu den Initiatoren zählte die "Widerstandsbewegung in Südbrandenburg“, die vor kurzem vom brandenburgischen Innenministerium verboten wurde.

Welche Rolle spielt die NPD?

NPD-Hänger marschieren mit einer Parteifahne durch ein Wohngebiet in Friedberg (Hessen). (Foto: Boris Rössler / dpa)
NPD-Anhänger, wie hier in Friedberg (Hessen), zeigen immer wieder Flagge. Doch der Widerstand nimmt zu.Bild: picture-alliance/dpa

Sichtbare Berührungspunkte zur Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) ergeben sich für die eher lose organisierten Rechtsextremisten vor allem bei öffentlichen Auftritten. Besonders beliebt sind Aufmärsche anlässlich von Jahrestagen der Bombardierung deutscher Städte während des Zweiten Weltkriegs. Dabei kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Neonazis und Gegendemonstranten. In Dresden, aber auch andernorts wehren sich seit Jahren breite gesellschaftliche Bündnisse gegen den Missbrauch der Gedenktage durch Rechtsextremisten.

Parteiübergreifend wird inzwischen wieder über ein Verbot der NPD diskutiert. Ende des Jahres wollen die Innenminister des Bundes und der 16 Länder über einen zweiten Anlauf vor dem Bundesverfassungsgericht entscheiden. Ein erster Versuch war 2003 gescheitert, weil der Verfassungsschutz zu viele Spitzel, sogenannte V-Leute, in NPD-Führungsgremien platziert hatte. Ob es weitreichende personelle Verbindungen zwischen der militanten Neonazi-Szene und der NPD gibt, ist insgesamt schwer einzuschätzen. Im Zuge der Ermittlungen gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) wurde der ehemalige hochrangige NPD-Funktionär Ralf Wohlleben verhaftet, dem die Bundesanwaltschaft Beihilfe zum Mord vorwirft.

Neuer Verfassungsschutzchef soll aufräumen

Von den NSU-Morden hat sich die NPD distanziert. Der seit November 2011 amtierende Vorsitzende Holger Apfel bezeichnete die Taten im Internet als "Abartigkeit“, die "fassungslos“ mache. Aus ihrer ausländerfeindlichen, antisemitischen Haltung machen die 6300 NPD-Mitglieder ansonsten keinen Hehl. Ihre Geisteshaltung bringen sie oft unterschwellig und rechtlich schwer angreifbar zum Ausdruck. So warb die Partei im Wahlkampf für das Berliner Abgeordnetenhaus mit dem Slogan "Gas geben“. Eine spitzfindige Anspielung auf die Vergasung der Juden während der Nazi-Herrschaft. Das Plakat hing unter anderem vor dem Jüdischen Museum in der deutschen Hauptstadt.

Der neue Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen, posiert mit verschränkten Arm vor einer Glaswand in Berlin. (Foto: Michael Gottschalk / dapd)
Hans-Georg Maaßen löst Heinz Fromm an der Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) ab.Bild: dapd

Zustimmung erhofft sich die NPD auch mit offener Islamfeindlichkeit. Gemessen an den Ergebnissen bei den sieben Landtagswahlen 2011 war der Erfolg aber überwiegend ernüchternd. In Mecklenburg-Vorpommern gelang erneut der Einzug ins Parlament, in allen anderen Bundesländern lag der Stimmanteil zum Teil bei unter einem Prozent. Erst beim Überspringen dieser kleinen Hürde erhalten Parteien, also auch die NPD, staatliche Wahlkampferstattung. Auch mit Hilfe dieser Einnahmen finanziert die 1964 gegründete rechtsextremistische Partei ihre aggressive Propaganda.

Die Beobachtung und Überwachung der rechtsextremistischen Szene ist und bleibt eine der wichtigsten Aufgaben des Verfassungsschutzes. Der neue Präsident Hans-Georg Maaßen wird nicht zuletzt daran gemessen werden, welche Konsequenzen er aus dem Versagen beim Aufdecken der NSU-Terrorgruppe zieht. Die Rückendeckung seines Dienstherren, Bundesinnenminister Friedrich, hat der 49-Jährige. Maaßen werde mit der "nötigen Durchsetzungsfähigkeit“ die auf politischer Ebene zu beschließenden Reformen des Verfassungsschutzes durchsetzen, ist Friedrich überzeugt.