"Raus aus dem depressiven Tunnel"
8. Mai 2016Ruhin Ashuftah berichtet über seine Arbeit mit jungen Afghanen, ihre Motive, enttäuschte Erwartungen und falsche Vorstellungen von Deutschland. Er beschreibt, wie er versucht sie dazu zu bringen, Eigeninitiative zu entwickeln, sich selbst zu motivieren und wieder mit positivem Blick in die Zukunft zu schauen.
Deutsche Welle: Sie betreuen in Hamburg unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Was erklären Sie den Jugendlichen, was sie in Deutschland zu erwarten haben?
Ruhin Ashuftah: Zuerst einmal sage ich ihnen, dass sie stark sind, dass sie zu den Überlebenden gehören und aufhören sollen, darauf zu schauen, was sie alles nicht haben: 'Meine Mutter ist nicht da, ich vermisse sie, ich bekomme keine Papiere, ich kann die Sprache nicht.'
Ich sage ihnen: 'Ihr seid in Deutschland asylberechtigt, ihr habt es bis hierhin geschafft, ihr hattet einen Auftrag von der Familie. Die haben ihr Geld zusammengelegt. Und jetzt rappelt euch mal wieder auf, ihr gehört zu denen, die es geschafft haben. Ihr könnt ja sehen, was da passiert an den Zäunen, an den Grenzen.'
Dann geht es erst einmal um die Zielfokussierung. Man muss ihnen wieder einen Rahmen geben, den sie verloren haben. Sie treffen auf die Realität, ihre Erwartungen wurden nicht erfüllt. Aber diese Erwartungen haben sie bis hierher getragen. Was ich in der Therapie dann mache, ist, einen neuen Rahmen zu schaffen, sie an ihre Kräfte erinnern, ihnen ein neues Ziel zu geben. Ich erkläre ihnen, dass es in Deutschland nicht so schnell geht.
Sie sind daran gewöhnt, vor Problemen wegzulaufen, über Landesgrenzen hinweg. Ich sage ihnen: 'Hier könnt ihr nicht weglaufen, hier müsst ihr bleiben. Ihr seid in einem Netzwerk, in einer Struktur, die ihr nicht sehen könnt. Man hat euch einen Vormund zur Seite gestellt, es dauert, bis ihr eine Krankenversicherung habt, bis ein Deutschkurs anfängt. Diese Dinge passieren um euch herum, ihr könnt es aber nicht sehen. Ihr seid ein stehender Punkt. Das ertragt ihr nicht. Aber so ist es nun einmal. Ihr müsst Geduld haben.'
Das zweite ist: Wenn sie traumatisiert sind - und das sind sie teilweise - dann haben sie Fokussierungsprobleme, sie haben Schlafstörungen, und das Gedächtnis arbeitet nur eingeschränkt. Wo die jungen Afghanen herkommen, redet man nicht darüber, weil man für verrückt gehalten werden könnte. Pädagogik existiert nicht in einem Kriegsgebiet, und eine Kindheit hatten sie auch nicht, weil sie immer gearbeitet haben. Und ich muss ihnen sagen: 'Ihr seid als minderjährige Flüchtlinge anerkannt, das heißt ihr seid Kinder, ihr habt die Regeln zu befolgen. Es gibt Hausregeln, ihr müsst um 22 Uhr hier sein, das ist etwas Neues für euch. Die Selbstständigkeit wurde euch entzogen.
Aber es gibt auch neue Möglichkeiten: Ihr könnt endlich wieder Kind sein. Ihr müsst euren Eltern in Afghanistan sagen, ihr werdet ihnen jetzt nicht sofort Geld schicken können. Höchstens einen Teil vom Taschengeld, das sich einige tatsächlich vom Mund absparen. Aber ihr seid nicht verrückt. Es ist nur eine Reaktion im Angstzentrum eures Gehirns, der Amygdala, ein Überlebens-Modus, der sich eingeschaltet hat. Das würde auch einem Deutschen so ergehen, wenn er tagelang im Wald ausharren muss, im Wasser steht, wenn er Gewässer überquert. Dann übernimmt der Überlebens-Instinkt. Man kann sich nicht mehr fokussieren, die Emotionen ebben ab, es gibt den Verlust des Raum-Zeit-Gefühls. Aber ich erkläre ihnen: 'Das geht wieder weg, ihr werdet wieder ganz stabil werden, wenn euer emotionales Wesen verstanden hat: Ich bin hier in Sicherheit. Wenn ihr nicht mehr nachts aufwacht und nicht wisst, wo ihr seid.' Das ist ein Teil des Traumas.
Wenn sie Papiere bekommen, dann erkläre ich ihnen: 'Eure Eltern sind ja noch da, die sind nicht verschwunden, sie sind nur ein paar Tausend Kilometer weit weg. Ihr habt jetzt ein Ziel. Wenn ihr Papiere bekommt, dann könnt ihr sie vielleicht in der Türkei besuchen. Oder, wenn ihr die Sprache beherrscht, dann bekommt ihr einen Job und könnt Geld rüberschicken.'
Ich baue sie auf und erkläre ihnen aus meiner Perspektive, was ich sehe. Denn ihre Realität gleicht dem depressiven Blick in einen dunklen Tunnel. Aber das ist nicht die Realität. In der Therapie gebe ich ihnen ein Heft mit weißen Blättern, in das sie schreiben sollen, was alles Positives passiert ist.
Ich erkläre ihnen, dass die rechte Gehirnhälfte bei ihnen das Kommando übernommen hat, die emotionale Seite, während die linke, die rationale Gehirnhälfte blockiert ist, das lernende, vernünftige System. Es ist sicherlich hilfreich, in einer extremen Situation, in der man überleben muss, nicht nachdenken zu müssen.
'Hier in Deutschland müsst ihr die linke Hirnseite aber wieder eingeschaltet bekommen. Das dauert ein bisschen. Und Geduld müsst ihr auch haben. Ich weiß, Massenunterkünfte sind nicht euer Ding, aber ihr als minderjährige Flüchtlinge habt es besser als die Flüchtlinge in den Familienunterkünften, in denen ich die ersten drei Jahre verbracht habe, als ich nach Deutschland kam.
Welche Vorstellungen haben die jungen Flüchtlinge, die sie betreuen und wie sieht der Realitätscheck aus, den sie ihnen - möglichst behutsam - beibringen müssen?
Ihre Vorstellung ist: Dort wird man sich um mich kümmern, Ärzte Gesundheitsversorgung, Unterkunft, Essen, Schule. Für Kriegsflüchtlinge, vor allem aus Afghanistan, ist das sehr wichtig, weil sie im Iran nicht zur Schule gehen durften. Das ist ein Ayatollah-Staat, wo man sie ab der fünften, sechsten Klasse aus der Schule nimmt, auch wenn sie dafür bezahlen, wo sie keinen Besitz haben dürfen, noch nicht einmal SIM-Karten besitzen dürfen. Und die Eltern sagen dann: 'Willst Du ewig Arbeiter sein? Nach Afghanistan kannst du auch nicht gehen. Gut: Geh nach Deutschland.'
Und dann kommen sie hier an und da gibt es erst mal keine Wohnung und nur das Nötigste an Gesundheitsversorgung. Das ist zwar nicht die ganze Wahrheit - es wird später mehr für sie getan. Aber der erste Aufprall in der deutschen Realität ist eben sehr ernüchternd und da brechen einige zusammen. Sie sagen sich: 'So soll ich jetzt die ganze Zeit leben? Zehn Leute in einem Zimmer, Eriträer, Araber, Leute, die mich bestehlen, mein Handy ist weg, ich vermisse meine Familie.' Jetzt kommen die Emotionen, das Trauma reist ihnen quasi nach und bricht hier erst richtig aus.
Unterwegs ist man stark, man zeigt keine Schwäche, um sich in der Hackordnung einer Gruppe zu behaupten, man ist immer in Bewegung. Und hier kommt man an, es gibt keine Bewegung mehr, es gibt nichts zu tun, man hat kein Geld in der Tasche. Es gibt keine Parks, wie in Athen, wo man auf andere trifft, es herrscht Stillstand. Und dann kommen die Emotionen. Die jungen Afghanen werden wie von einer Welle von unterdrückten Gefühlen überspült. Das gibt ihnen den Rest. Und wenn man dann keine Verwandtschaft hier hat, keine Schulbildung, dann ist man noch mehr aufgeschmissen.
Dann entlädt sich die Wut, auf den Betreuer. Ich erkläre ihnen dann: Der Betreuer ist nur der Nachrichtenempfänger. Der gibt nur weiter, was die Behörden ihm gesagt haben. Hier funktioniert das nicht so, dass du mit ihnen verhandelst. Es ist nicht so: 'Der kennt deinen Onkel, der kennt deinen Cousin - so läuft das hier nicht. Demokratie bedeutet auch, gleich lang zu warten!'
Und wie ist die Reaktion darauf?
Erst mal ungläubig, dann: 'Ich habe gehört, der hat dies oder das gekriegt' - ich nenne das die "Afghanistan-Flüchtlingsnachrichten". Dann sage ich: 'Na gut, von schlechten Sachen erzählt ja auch keiner was. Jeder erzählt nur davon, was er erreicht hat. Solche Geschichten kenne ich auch - die bringen dir aber nichts.
Die Gesetzeslage verändert sich. Früher, vor zwei Jahren, hat man gleich eine Wohnung bekommen. Dann waren es drei Monate Erstaufnahmeeinrichtung, jetzt sind es acht Monate.
Der Schlafplatz, sage ich ihnen, ist wie beim Militär. Er ist egal. 'Du bist als minderjähriger Flüchtling anerkannt, dann hast du die Möglichkeit zur Schule zu gehen. Das ist das Mindeste.' Ich sage ihnen, dass ich drei Jahre im Asylheim war, ich war bei der NATO als Dolmetscher. Das System ist wichtig, in dem du dich bewegst, die Papiere, die du bekommst, nicht die Verpflegung oder wo du schläfst.
Ich mache ihnen keine Hoffnung, ich bemitleide sie nicht. Sonst würde ich sie schwächen. Also sage ich: 'Dein Ziel muss sein: Was hast Du? Und nicht, was hast du nicht.' Die entscheidende Frage ist: 'Was kannst Du selber schaffen?'
Wie sieht das Aufeinanderprallen von Wunsch und Realität aus, wenn es um die Bleibeperspektive geht? Wie ermutigt man Menschen, bei denen die Chancen fünfzig zu fünfzig stehen, besonders jetzt, nach der letzten Politikwende?
Wir hatten die 18-Monats-Regelung, die sogenannte Senatorenregelung hier in Hamburg, die jetzt ausgesetzt wurde, den Paragraphen 25a. Das bedeutete, dass jeder Afghane, der 18 Monate lang in Hamburg war, bleiben und sich hier aufhalten durfte. Manche haben sich so sehr darauf verlassen, dass sie nie einen Asylantrag gestellt haben. Die haben jetzt natürlich den Schwarzen Peter. Diejenigen, die einen Asylantrag gestellt haben, sind besser dran.
Jemandem, der einen negativen Bescheid bekommen hat, der das Geld der Familie aufgebraucht hat und dem jetzt die Abschiebung droht, dem sage ich erst einmal: 'Ok, vielleicht warst Du ja beim Psychologen und der hat dir attestiert, das es dir nicht so gut geht. Es wäre eine Möglichkeit, das einem Anwalt in die Hand zu geben. Du hast Verwandte hier, die dir vielleicht einen Anwalt bezahlen können. Dann gehörst du zu den glücklicheren, die das verzögern können. Dann gehst du zur Schule, vielleicht darfst du eine Ausbildung machen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Abschiebung schon niedriger.'
Ein Araber, der 18 Jahre alt wird und der als Wirtschaftsflüchtling gilt, muss auf eigene Kosten, auf eigene Initiative die verschiedenen Fluchtpunkte, etwa kirchliche Träger, selbst kontaktieren. Vielleicht über einen Anwalt nachweisen, dass er die Sprache sehr gut gelernt hat. Bei Wirtschaftsflüchtlingen ist Eigeninitiative gefragt. Kriegsflüchtlinge haben mehr Möglichkeiten, ihnen wird auch eher geholfen. Wenn man keine Straftaten begangen hat, hat man ja die Abschiebung nicht selbst verschuldet. Ich versuche dann zu erklären, was es für Möglichkeiten gibt, was der Flüchtling versuchen kann. Und wenn nichts klappt, gehen einige in ein anderes EU-Land.
'Wenn ich hier nicht als minderjähriger Flüchtling anerkannt werde', haben sie uns gesagt, 'dann gehe ich in eine andere Stadt, in ein anderes Land. Ich will zur Schule gehen. Ich durfte mein Leben lang nicht in die Schule gehen, Afghanistan ist zu gefährlich und im Iran durfte ich nicht.'
Sie haben den Iran häufig erwähnt. Bedeutet das, dass ein großer Teil der Afghanen in letzter Zeit aus dem Iran kommt?
Ein großer Teil kommt über den Iran. Das Recht, sich dort aufzuhalten, ist begrenzt und kann ihnen jederzeit entzogen werden. Manche werden deportiert. Sie gelten dort als Afghanen, selbst wenn manche dort geboren sind. Daher ist der Iran für sie keine Alternative. Irgendwann werden die Afghanen zurückgeschickt oder sie werden von der Regierungsmacht dort schlecht behandelt. Auch die eigenen iranischen Studenten, die Anhänger der 'Grünen Revolution' werden dort unterdrückt. Für die Afghanen ist der Iran zwar ein Land, in dem sie die Sprache sprechen, aber den Afghanen, mit denen ich geredet habe, fehlt dort die Zukunftsperspektive. Sonst würden viele von ihnen dort bleiben.
Es gibt zwar eine kulturelle Nähe zu diesen Ländern, aber es gibt dort keine Arbeit, keine Gleichberechtigung und teilweise handelt es sich wie im Falle des Iran um Diktaturen. Es fehlt die Zukunftsperspektive. Man kann sich damit abfinden, für den Rest seines Lebens ein Arbeiter ohne Chance auf Bildung zu sein oder man sagt: 'Ich gehe nach Europa. In Afghanistan bin ich in Gefahr, im Iran macht man mit mir was man will, die Türkei hat keinen Platz mehr, Griechenland ist pleite und die Gesellschaft dort wird immer rechter.' Also geht's Richtung Deutschland, nach Hamburg oder über das Nadelöhr Hamburg in die skandinavischen Länder.